Prof. Dr. Barbara Rendtorff
Prof. Dr. Barbara Rendtorff ist Erziehungswissenschaftlerin und Professorin für Schulpädagogik und Geschlechterforschung an der Universität Paderborn. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte konzentrieren sich auf die Theorie der Geschlechterverhältnisse sowie auf die Frage, wie Geschlechterbilder und -stereotype tradiert werden und wie sie in komplexen gesellschaftlichen und pädagogischen Situationen wirksam werden.
Frau Rendtorff, Sie haben in dem Buch „Überkreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz“ in ihrem Artikel „Warum Geschlecht doch etwas ‘Besonderes‘“ ist, die These vertreten, dass „Geschlecht und Geschlechtlichkeit für den Menschen etwas „Besonderes“ ist, genauer: etwas besonderes Besonderes, das sich von anderen Besonderheiten, die ein Individuum kennzeichnen, unterscheidet, also in einer speziellen Weise anders als etwa Race oder Alter oder Klasse wirksam wird“ (S.69).
Wieso ist das so? Wie begründen Sie das?
Das ‚Geschlecht‘
Das ‚Besondere‘ liegt zunächst schlicht in der Verbindung zum Sexuellen, und damit hat Geschlecht – auch wenn wir das subjektiv nicht immer so empfinden – wegen seiner Verbindung zur Geburtigkeit eine existenzielle Dimension: Es verweist mit der Entstehung von Leben auch auf dessen Endlichkeit. Außerdem hat das menschliche Begehren, in welcher Form es sich auch jeweils zeigen mag, immer eine Verbindung zum Sexuellen als einer Antriebskraft. Deshalb haben alle menschlichen Gesellschaften Formen entwickelt, die diese dramatische Thematik ordnen, wie Heiratsregeln oder heteronormative Ordnungen. Diese sind in Konventionen und ‚symbolischen‘ Ordnungen organisiert, die wir eher unbewusst lernen, und weniger in Gesetzen oder festen Regeln. Es ist deshalb nicht sonderlich hilfreich, die Unterschiede zwischen Kindern unter einem Dachbegriff wie ‚Heterogenität‘ zu versammeln – das erschwert es nur, die jeweiligen Problematiken und Dynamiken zu verstehen, die mit Differenzzuschreibungen unterschiedlicher Art verbunden sind.
‚Männer‘ und ‚Frauen‘
Eine Besonderheit der symbolischen Geschlechterordnung unserer Gesellschaft ist die Gewöhnung daran, über Frauen und Männer als ‚Verschiedene‘ zu denken – wir vergleichen sie ständig miteinander (‚Mädchen mögen lieber…‘ / ‚Jungen interessieren sich mehr für …‘), attestieren ihnen unterschiedliche Vorlieben oder Eignungen und grenzen sie auch gegeneinander ab. Hier ist es wichtig, zu unterscheiden zwischen der körperlichen Ausstattung und der Bedeutung, die wir dem Geschlecht geben. Der Körper ‚an sich‘ bedeutet nichts – alle gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Frauen und Männern sind gesellschaftlich geformt. Dabei haben Kinder zwar möglicherweise unterschiedliche Fragen an ihre Körper (etwa die Vorstellung, Babys zu bekommen oder eben nicht) – aber wie sie diese auslegen und wie sie an diesem schwierigen Problem arbeiten, hängt eben von den Möglichkeiten und Erklärungen ab, die wir Erwachsenen ihnen zur Verfügung stellen. Die Frage, wie Männer oder Frauen ‚sind‘, ist immer schon falsch gestellt.
Die gesellschaftliche Dimension
Nicht zuletzt deshalb ist Geschlecht eine sogenannte gesellschaftliche ‚Strukturkategorie‘, ist also die Grundlage gesellschaftlicher Ordnungen, die auch Arbeitsteilung, Vorstellungen von spezifischer Eignung und Begabung usw. einschließen. In der Bürgerlichen Gesellschaft, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts formierte, hat sich als wesentliches Kennzeichen der Vorstellungen von weiblich und männlich die Zuordnung von Frauen zu Leiblichkeit, Kreatürlichkeit und Gefühl, zu Nähe und Verständnis und zu den kleinen Kindern etabliert, sowie ihre Fernhaltung von den öffentlichen Belangen der Gesellschaft. Männer wurden dagegen eng mit Rationalität, Überlegenheit und Körperferne sowie mit der materiellen Verantwortung in Verbindung gebracht. In gewisser Weise repräsentieren also Frauen die Aspekte der ‚Hinfälligkeit des Leibes‘, während Männer mit der Überwindung leiblicher Einschränkungen in Verbindung gebracht werden – und beides ist natürlich unvollständig. Frauen und Männer haben also beide Begrenzungen und Verluste erfahren: Frauen wurden einerseits als schwach und unzulänglich gezeichnet, gleichzeitig aber mit der Fähigkeit zu personenbezogener Sorge ausgestattet; Männer wurden einem sogenannten ‚Überlegenheitsimperativ‘ unterworfen, sie hatten die gesellschaftliche Macht, waren aber in den zwischenmenschlichen Beziehungen zu Frauen und Kindern massiv eingeschränkt. Die weibliche Position galt dabei durchweg als gesellschaftlich weniger wertvoll und anerkannt.
Die Zwickmühle
Deshalb war (und ist) es politisch kompliziert, Positionen und Strategien zu entwickeln, die beiden Geschlechtern etwas von ihren verlorenen Entfaltungsmöglichkeiten zurückgeben könnten. Appelliert man an die ‚Gleichheit‘ der Menschen, so wird es schwer, die jahrhundertelange Gewöhnung an männliche Überlegenheit und die Abwertung von ‚Frauenarbeit‘ hinter sich zu lassen. Geht man aber von einer Verschiedenheit der Geschlechter aus (etwa mit der Behauptung, Frauen seien ‚empathischer‘ als Männer), so gibt es keinen Weg, der aus der biologistischen Festschreibung hinausführt.
Im Rahmen des ESF-Bundesmodellprogramms ‚Quereinstieg - Männer und Frauen in Kitas‘ setzen sich die beteiligten Modellprojekte das Ziel, für die besondere Zielgruppe der Berufswechslerinnen und Berufswechsler (also nicht arbeitslos gemeldete Personen) erwachsenengerechte und geschlechtersensible Ausbildungsmöglichkeiten zu schaffen oder weiterzuentwickeln. Im Programm werden die Auszubildenden parallel zu ihrer Ausbildung in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis in einer Kita beschäftigt und erhalten eine angemessene Vergütung.
Was würden Sie Akteuren in der Erzieher/innen-Ausbildung mit auf den Weg geben, die ihr Curriculum der frühkindlichen Erziehung und Bildung erwachsenengerecht und geschlechtersensibel entwickeln wollen?
Umgang mit Kindern
Pädagogische Fachkräfte lassen sich leider oft verleiten, aus ‚gutem Glauben‘ die vermeintlichen ‚Besonderheiten‘ (Vorlieben usw.) von Mädchen und Jungen zu betonen, indem sie beispielsweise mit den Jungen mehr toben und raufen und mit den Mädchen eher basteln und malen (dies wird oft auch durch die Einrichtung von Kindertagesstätten verstärkt, indem etwa Puppenecke und Bauecke den Kindern den ‚zu ihnen passenden‘ Platz zuweisen). Das ist eine völlig unnötige und falsche Form der Vereindeutigung von Kindern und schränkt sie in ihren Entwicklungsmöglichkeiten ein. Gleichzeitig wünschen sich kleine Kinder aber auch Anerkennung, nicht zuletzt ‚als Mädchen‘ oder ‚als Junge‘, denn schließlich gehört die Entwicklung einer sicheren Geschlechtsidentität zu ihren Entwicklungsaufgaben. Man muss also lernen, die Wertschätzung des Mädchen- oder Jungeseins nicht über Vereindeutigungen im Umgang mit ihnen zu betonen – wie sollen die Kinder sonst etwa lernen, dass auch ein Junge, der mit Barbies spielt, ein ‚richtiger Junge‘ ist?
Was Kinder tun
Zu dem kindlichen Wunsch nach Anerkennung gehört auch, dass Kinder oft den Weg wählen, das zu tun, wovon sie meinen, dass es für sie ‚angemessen‘ sei und von ihnen erwartet wird. So wie sie brav ihre Schuhe ins Regal stellen, so stellen sie sich auch ‚als Junge‘ oder ‚als Mädchen‘ dar, entsprechend der von ihnen empfundenen Erwartungen. Viele Spielhandlungen von Kindern sind eigentlich Darstellungen, Inszenierungen, die dazu dienen, ihre Erscheinung und ihr Handeln nach den empfundenen und vermuteten Erwartungen der Erwachsenen geschlechterbezogen zu formen und sich darin zu üben. Sie antworten dabei sozusagen auf das, was ihnen im Fernsehen, in Bilderbüchern, auf Plakatwänden bis hin zu den nett gemeinten Bemerkungen von NachbarInnen und Verwandten entgegentritt.
Selbstbeobachtung und Selbstreflexion
Was PädagogInnen als ‚Interessen‘ von Kindern entgegengebracht wird, ist also immer schon durch den Filter gesellschaftlicher Erwartungen gegangen und oftmals Ergebnis einer Art ‚Selbsterziehung‘. Pädagogische Fachkräfte dürfen diese Darstellungen deshalb nicht einfach als die ‚Wahrheit des Kindes‘ beantworten, sondern haben die Aufgabe, solche Festlegungen durch ihre Angebote abzumildern und auch andere Wege zu eröffnen. Der erste und wichtigste Schritt besteht darin, sich über die eigenen Stereotypen und Vorerwartungen klar zu werden – auch darüber, wie oft im Alltag geschlechtstypische Zuschreibungen geschehen (auch zwischen Erwachsenen). Die Voraussetzung für eine solche Selbstüberprüfung ist die seriöse Kenntnis der komplexen Zusammenhänge zwischen geschlechterbezogenem Verhalten, Erwartungen und Zuschreibungen.
Welche Kompetenzen benötigen die Lehrkräfte bzw. Dozent/innen in den Fachschulen und Hochschulen, um Genderkompetenzen bei frühpädagogischen Fachkräften zu fördern?
DozentInnen kommt die Aufgabe zu, diese Problematik nachvollziehbar zu machen und die Grundlage dafür zu legen, dass die Fachkräfte die entsprechende Vorsicht und den differenzierten Blick auf die Geschlechterdynamik in ihr routinisiertes Alltagshandeln übernehmen können. Weil Geschlecht etwas ‚Selbstverständliches‘ zu sein scheint, über das alle ‚Bescheid zu wissen‘ meinen, kann die Bereitschaft zur Reflexion nur auf dem Weg über ein solides und differenziertes Wissen vermittelt werden. Das ‚Wissen‘ über Geschlecht (oder: das sogenannte ‚Geschlechterwissen‘) ist sozusagen ‚abgesunken‘ und hat sich in Form von ‚beliefs‘ und Einstellungen bei Erwachsenen bereits verfestigt. Weil sich die aus Tradition und Stereotypen gebildeten Vorstellungen jedoch nicht leicht auf Anhieb durchschauen lassen, müssen DozentInnen immer zuallererst den Weg dahin bahnen, dieses abgesunkene Wissen zu befragen, zu prüfen und neue Grundlagen zu legen.
Was bedeuten Ihre Überlegungen für das Thema ‚Männer in Kitas‘?
Wie in der Antwort auf Frage 1 erläutert, hat die Abgrenzung und Unterscheidung von Frauen und Männern in unserer Gesellschaft einen zentralen Stellenwert. Wir sind gewohnt, diese Unterschiede ‚mitzudenken‘ – und leider auch da, wo der Mund etwas anderes sagt, oder die sachliche Einsicht dem entgegensteht: Stereotype sind der Vernunft nur begrenzt zugänglich. Das macht es grundsätzlich schwierig, in Arbeitsfelder einzutreten, die vermeintlich nicht zum eigenen Geschlecht ‚passen‘. Für Männer liegt eine zusätzliche Schwierigkeit in der strukturellen Minderbewertung der von Frauen verrichteten Arbeiten – also im weitesten Sinne dem Tätigkeitsfeld, das mit Sorgen, Pflegen, Kümmern zu tun hat. Die Geringschätzung dieser Arbeiten färbt ja immer auf diejenigen ab, die diese Arbeiten verrichten. Da es keine angeborene geschlechtsspezifische Eignung zur Sorge gibt, sind Frauen und Männer für das Arbeitsfeld der Sorgearbeiten natürlich gleichermaßen gut geeignet – dasselbe gilt für pädagogische professionelle Tätigkeiten. Nur müssen Männer gewissermaßen zwei Schritte machen, wenn sie sich für diese Arbeiten entscheiden: ihre Männlichkeit als ‚passend‘ zu diesen Arbeiten verteidigen und mit der von außen adressierten ‚Abwertung‘ (die sich auch im Verdienst äußert) zurechtkommen. Aber es lohnt sich – nicht nur für die Einzelnen, die sich zu einer Arbeit entschließen, die ihnen Freude macht und für die sie sich selbst geeignet fühlen, sondern auch, weil auch dies als Zeichen der Veränderung zur Flexibilisierung und Modernisierung der Gesellschaft beiträgt.
Vielen Dank für das Interview!