Berufsbegleitende Ausbildung in Zeiten des Fachkräftemangels – eine Mogelpackung?

Interview mit Ronny A. Fehler von der Gewerkschaft für Erziehung und Bildung (GEW), Landesverband Berlin über Qualitätsstandards der berufsbegleitenden Ausbildung.

Foto: privat.

Ronny A. Fehler war nach dem Studium der Kindheitspädagogik, Erziehungswissenschaft und Soziologie vier Jahre lang als Kitaleiter tätig und ist seit Januar 2017 Referent bei der GEW Berlin.

Die GEW Berlin hat eine Broschüre „Tipps und Infos für Erzieher*innen in berufsbegleitender Ausbildung“ erstellt.

www.gew-berlin.de/4465.php | GEW Broschüre zum Herunterladen

Was war der Anlass für die Erstellung der Broschüre?

Mit der Ausweitung der berufsbegleitenden Ausbildung im Land Berlin hat die zuständige Senatsverwaltung den Versuch unternommen, dem drohenden Fachkräftemangel in den Kindertagesstätten entgegen zu wirken. Im Gegensatz zur klassischen Ausbildung zur Erzieher*in haben die Studierenden in dieser Form die Möglichkeit, parallel zur Ausbildung in einer Praxiseinrichtung zu arbeiten.

Schwierige vertragliche Gestaltung der Ausbildung

Das Besondere an dieser Ausbildungsform ist jedoch, dass die Studierenden auf der einen Seite einen Arbeitsvertrag mit einem Arbeitgeber haben und zum anderen einen Ausbildungsvertrag mit einer Fachschule. Wenngleich diese Verträge sich gegenseitig voraussetzen, stehen sie weiter in keinem Bezug zueinander. Das hat immer wieder zur Folge, dass die vielen unterschiedlichen Vertragsmodelle zu erheblichen Irritationen und auch zu extremem Belastungen für die Studierenden führen. Uns suchen viele Studierende auf, die mit der hohen Doppelbelastung an ihre Grenzen kommen.

Gehaltsunterschiede teilweise erheblich

Zudem müssen wir vielerorts feststellen, dass die Kolleg*innen in berufsbegleitender Ausbildung mit erheblichen Gehaltsunterschieden konfrontiert sind. Während eine Studierende in berufsbegleitender Ausbildung bei einem öffentlichen Träger, wie den Kita-Eigenbetrieben, mit einem 20 Stundenvertrag ungefähr ein Bruttogehalt in Höhe von 1000 Euro erhält, werden bei freien Trägern einige Studierende auf „Minijob“- Basis beschäftigt (bis zu 450 Euro Verdienst monatlich). Gleichzeitig können viele ihre Arbeitnehmer*innenrechte nicht wirklich wahrnehmen. Das hängt unter anderem mit dem ungleichen Abhängigkeitsverhältnis zum Arbeitgeber zusammen. Wenn der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis beendet, gerät gleich die gesamte Ausbildung in Gefahr.

An dieser Stelle ist es uns wichtig, die Studierenden aufzuklären und ihnen mögliche Stolperfallen im Voraus aufzuzeigen. Im Einzelnen heißt das:

 

  • Was gilt es beim Arbeitsvertrag zu beachten, insbesondere bei der Vergütung, bei der Arbeitszeit und beim Urlaub? Wie werden die Studierenden während der Ausbildungszeit begleitet? Welchen Einfluss haben sie auf den Dienstplan und wie können sie mit Überlastungssituationen umgehen?
  • Für den Ausbildungsvertrag ist darüber hinaus wichtig, welche Präsenzzeiten in den Schulen vorgesehen sind. Hier kommt es häufig zu Überschneidung mit der im Arbeitsvertrag geregelten Arbeitszeit.
  • Mit diesen Problemen sehen sich mittlerweile auch die Kolleg*innen in den anderen Bundesländern konfrontiert. So wird derzeit eine ähnliche Broschüre vom GEW Landesverband Baden-Württemberg erarbeitet.

Die berufsbegleitende Ausbildung hat in Berlin, laut der Senatsverwaltung, eine große Bedeutung für die Gewinnung und Bindung von Fachkräften. Der Anteil an dieser Ausbildungsform betrug im Schuljahr 2015/16 immerhin 37,83%. Ein wichtiger Aspekt ist dabei sicherlich auch der Zugang mit fachfremder Berufsausbildung und die Möglichkeit der 100%-Anrechnung auf den Personalschlüssel. Damit ist die berufsbegleitende Ausbildung eine wichtige Säule, um Fachkräfte zu gewinnen. Welche besonderen Potenziale und auch Risiken ergeben sich aus Ihrer Sicht in der berufsbegleitenden Ausbildung nach dem Berliner Modell?

Das Land Berlin hat einerseits die berufsbegleitende Ausbildung in den letzten Jahren massiv gefördert. Andererseits hat es die Senatsbildungsverwaltung unseres Erachtens versäumt, die Rahmenbedingungen auch entsprechend zu gestalten. Aus unserer Sicht macht eine berufsbegleitende Teilzeitausbildung nur dann Sinn, wenn die Studierenden auch wirklich als solche behandelt werden und ein entsprechender Rahmenlehrplan mit einer integrierten Praxisordnung vorliegt. Das jetzige Modell gleicht einer Mogelpackung. Vordergründig suggeriert die Senatsbildungsverwaltung eine praxisnahe Ausbildung. Ein Blick in die Kitas zeigt aber, dass es scheinbar nur darum ging,  schnellstmöglich dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken und Personal zur Verfügung zu stellen.

Qualitätsstandards wichtig

Die Kolleg*innen werden vom ersten Tag in der Praxis zu 100% auf den Personalschlüssel anerkannt. Ohne jegliche Vorerfahrungen gehören sie dann zum Fachpersonal und nach einer kurzen Schonfrist müssen auch die Meisten eine entsprechende Verantwortung übernehmen. Das kann nicht funktionieren. Hier leiden sowohl die Studierenden, die natürlich den Anforderungen noch nicht gerecht werden können. Aber auch die Erzieher*innen sind stark belastet. Sie leiten die Studierenden an und müssen darüber hinaus die Qualitätsstandards aufrechthalten. Denn: Studierende im ersten Ausbildungsjahr können noch keine Elterngespräche führen, kennen die Sprachlerntagebücher noch nicht und werden bei der Gestaltung von Projekten an ihre Grenzen kommen. Kurz: Ohne jegliche pädagogische Ausbildung, können die Entwicklungsprozesse der Kinder nicht fachlich begleitet werden.

Selbststudium und Praktika als Herausforderungen

Zudem leidet auch die Ausbildungsqualität. Wir stellen vielerorts einen Qualitätsverlust in der Ausbildung fest. Bei der Vielzahl von Fachschulen, insbesondere der neu gegründeten, wird eine flächendeckende Überprüfung und Einhaltung der geltenden Qualitätsstandards nicht mehr gewährleistet.

Studierende in der Teilzeitausbildung müssen einen großen Teil der erforderlichen Gesamtunterrichtsstunden im Selbststudium erbringen. Hinzu kommt, dass sie während der berufsbegleitenden Ausbildung in der Regel nur in einer Praxisstelle arbeiten. Während in der Vollzeitausbildung drei verschiedene Praktika vorgeschrieben sind, verpassen die berufsbegleitenden Studierenden die Möglichkeit, ein breites Spektrum des Berufsfeldes kennenzulernen. Denn „die Ausbildung an der Fachschule für Sozialpädagogik soll die Studierenden befähigen, Erziehungs-, Bildungs- und Betreuungsaufgaben zu übernehmen und in allen sozialpädagogischen Arbeitsfeldern als Erzieherin oder Erzieher selbstständig und eigenverantwortlich tätig zu sein“ (vgl. APVO-Sozialpädagogik).

Anrechnung auf den Personalschlüssel

Wir schätzen die berufsbegleitende Teilzeitausbildung besonders wegen der Praxisnähe. Das kann unseres Erachtens aber nur gelingen, wenn die Studierenden in den Praxiseinrichtungen auch als Lernende behandelt werden und entsprechende Ressourcen bereit stehen.

Für Personen in der berufsbegleitenden Ausbildung schlagen wir folgendes Modell vor:

 

  • Erstes Jahr keine Anrechnung auf den Personalschlüssel
  • Zweites Jahr eine 50%ige Anrechnung auf den Personalschlüssel
  • Drittes Jahr eine 100%ige Anrechnung auf den Personalschlüssel

Wir schlagen zusätzlich einen Personalzuschlag von drei Stunden pro Woche für die von Fachkräften übernommene Anleitung von Studierenden vor. Dieser Zuschlag ist bis zum Ende der berufsbegleitenden Ausbildung zu realisieren.

Studierende als Lernende

Darüber hinaus müssen die Rahmenlehrpläne und Praxisordnungen aufeinander abgestimmt sein und es muss ein individueller Ausbildungsplan für jeden Studierenden erstellt werden. Hier können u.a. sowohl unterschiedliche Praxisschwerpunkte ihrenPlatz finden, aber auch die jeweilige Konzeption der Kita kann so berücksichtigt werden.

Das Land Berlin wird voraussichtlich ab dem Schuljahr 2017/18 die Unterstützung für die Praxisbegleitung bzw. das Praxismentoring in der berufsbegleitenden Ausbildung erhöhen, zukünftig sollen im ersten Ausbildungsjahr drei Stunden pro Woche und Schüler/in finanziert werden, im 2. Jahr 2 Stunden und im 3. Jahr eine Stunde. Hinzu kommt, dass seit dem Schuljahr 2016/17 das von den privaten bzw. freien Fachschulen erhobene Schulgeld komplett vom Land Berlin übernommen wird.
Wie bewerten Sie aus Gewerkschaftssicht diese Maßnahmen der Senatsverwaltung? Wie wird sich die berufsbegleitende Ausbildung langfristig weiterentwickeln müssen?

Wie beschrieben, sind die Studierenden in berufsbegleitender Ausbildung erheblichen Belastungen ausgesetzt und befinden sich teilweise in prekären Arbeitsverhältnissen.

Fachkräftegewinnung durch Anrechnung von Sozialassistent*innen auf den Personalschlüssel

An dieser Stelle verschließt die Senatsbildungsverwaltung ihre Augen und lässt ihre Auszubildenden mit den Problemen vor Ort alleine. Das wird auf lange Sicht keine Anreize schaffen, um mehr Menschen für den Beruf der Erzieher*in zu gewinnen. Schon jetzt fehlt es in Berlin überall an qualifizierten Erzieher*innen. Dass die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie nun Sozialassistent*innen in Kindertagesstätten einsetzen will, gefährdet massiv die Einhaltung der Qualitätsstandards. Die Ausbildung zum/zur Sozialassistent*in ist keine pädagogische Ausbildung, und der Ausbildungsgrad liegt deutlich unterhalb den bisherigen Zugangsbedingungen für den Quereinstieg. Deshalb kritisieren wir deutlich, dass Menschen mit diesem Berufsabschluss bis zu 24 Monate vor dem Beginn der berufsbegleitenden Ausbildung in den Kitas eingesetzt werden können und auf den Personalschlüssel angerechnet werden. Zugleich wird dieQuote für Personen im Quereinstieg auf 33 Prozent angehoben.

Fachkräftegewinnung durch Akademisierung

Es ist eine alte GEW Forderung, den Beruf der Erzieher*in an die Hochschulen zu holen. Nur so sehen wir die Möglichkeit, diesem umfangreichen und fachlich anspruchsvollen Berufsfeld gerecht zu werden.

Fachkräftegewinnung durch Entgelterhöhung

Mit Besorgnis beobachten wir die jetzige Entwicklung. Der praktizierte Einsatz von Personal in den Kitas führt zu einer Entwertung vorhandener beruflicher und pädagogischer Standards, die zu Lasten der Förderung der Kinder geht. Die angespannte Fachkräftesituation kann unserer Auffassung nach nicht behoben werden, indem die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie zu dequalifizierenden Maßnahmen greift. So zahlt das Land Berlin angestellten Lehrkräften bereits seit 2009 eine deutliche übertarifliche Zulage zum monatlichen Entgelt, um dadurch Pädagog*innen zu gewinnen und zu halten. Auch in vielen anderen Bereichen schaffen die Arbeitgeber*innen zusätzliche Anreize, um Fachkräfte zu werben.

Hier werden wir das Land Berlin weiter treiben!