Christoph Kimmerle
Christoph Kimmerle ist Diplom-Psychologe und Supervisor (DGSv) und arbeitet als Dozent am Pestalozzi-Fröbel-Haus (PFH), einer Fachschule für Erzieher/innen in Berlin. Dort widmet er sich unter anderem Genderthemen. Er war Mitglied des Fachbeirats im Projekt ‚Gender Loops‘ zur Implementierung und Erprobung von Gender Mainstreaming Strategien in der Aus- und Fortbildung von Erzieher/innen.
Herr Kimmerle, Sie arbeiten als Dozent am Pestalozzi-Fröbel-Haus in Berlin und haben zu Gender-Themen und deren Umsetzung in der Organisationsentwicklung geforscht.
Wie wird das Thema ‚Gender‘ im Kontext der Frühpädagogik aktuell diskutiert?
Die Diskussion zu diesem Thema ist ein sehr weites Feld. Sie betrifft unterschiedliche für die Frühpädagogik relevante Bereiche. Dazu zähle ich beispielsweise entwicklungspsychologische Aspekte, pädagogische Handlungsansätze sowie die Ebene der professionellen Fachkräfte und der Eltern und Familien. Nach Veränderungen im fachlichen Diskurs gefragt, scheinen mir zwei Aspekte hervorhebenswert. Der eine beinhaltet den Blick auf die Kinder selbst, der andere den auf die Fachkräfte.
Sexuelle und geschlechtliche Entwicklung von Kindern
Was die Zugänge zur geschlechtlichen und sexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen betrifft, nehme ich eine Veränderung in der fachlichen Perspektive wahr: Noch vor zehn bis 15 Jahren waren solche Ansätze viel stärker vertreten, die Geschlecht als festes und gegebenes Personenmerkmal ansahen. Sie schauten beispielsweise lediglich danach, wie sich Jungen und Mädchen unterschiedlich verhalten. Viele der heute anzutreffenden Ansätze nehmen stattdessen in den Blick, wie die Differenzen selbst überhaupt im Sinne eines Doing Gender* hergestellt werden. Sie spüren nach, wie sich Kinder und Jugendliche die Regeln unserer Kultur der Zweigeschlechtlichkeit aneignen. Und sie zeigen auf, wie Heranwachsende sich in der Interaktion oder in ihren Deutungen als geschlechtliche und sexuelle Subjekte zueinander in Beziehung setzen und definieren. Zu erkennen ist dann eine Vielfalt, die nahe legt, dass nicht mehr nur von „männlich“ oder „weiblich“, sondern von Männlichkeiten und Weiblichkeiten im Plural gesprochen werden kann. Dazu gehört auch, dass die höchst unterschiedlichen Sexualitäts- und Geschlechtlichkeitsentwürfe offensichtlich eng mit einer Positionierung innerhalb der sozialen Hierarchie verbunden sind.
Entsprechend hat sich die Ausrichtung pädagogischer Handlungsmöglichkeiten verändert – „von binären zu geschlechterpluralen Ansätzen“, wie dies Baltes-Löhr formuliert, zu einer Geschlechter- und Sexual-Pädagogik der Vielfalt, für die beispielsweise Tuider bekannt ist. Dazu zählt neben einer stärkeren Berücksichtigung von Differenzen innerhalb der Gruppe von Jungen und Mädchen auch die Verschränkung mit anderen Dimensionen sozialer Differenz und Ungleichheit, im Sinne einer Intersektionalen Pädagogik.
Damit schlagen sich wichtige Erkenntnisse und Konzepte aus der wissenschaftlichen Diskussion und Forschung der letzten zehn bis 20 Jahre im Bereich sozialpädagogischer Qualifizierungsstrukturen und praktischer Kompetenzen der Fachkräfte nieder.
Fachkräfte
Auch beim Blick auf die professionellen Fachkräfte sind meiner Wahrnehmung nach Veränderungen festzustellen: Die Debatte um die Bedeutung des Geschlechts von Erzieher_innen wird mittlerweile erkennbar sachorientierter geführt; es gibt einiges an profunden Studien und Beiträgen aus dem wissenschaftlichen Feld, die das unterstützen. Dazu zähle ich beispielsweise Publikationen von Rose und May, Helbig, Rieske oder Rohrmann, die sich mit dem Thema beschäftigen. Die Akzeptanz von männlichen Fachkräften hat weiter zugenommen und Fragen der Missbrauchsprävention konnten insofern versachlicht werden, als strukturelle Aspekte und Maßnahmen in zunehmender Weise an die Stelle eines Generalverdachts bezüglich einer Personengruppen treten konnten. Das spiegelt sich beispielsweise in den Bausteinen für ein Schutzkonzept von Cremers und Krabel wider. Die Initiative „Männer in Kitas“ hat meines Erachtens wesentlich zu dieser Versachlichung und zu einer breiteren Wahrnehmung der Thematik in der Öffentlichkeit beigetragen; damit wurden wichtige Impulse in Richtung einer weiteren Professionalisierung in diesem Bereich geleistet.
Welche Rolle spielen Genderthemen in der Erzieher/innenausbildung? Worum geht es?
Curriculare Verankerung in der Ausbildung
Weitgehend unbestritten scheint mir zunächst einmal, dass es sich nach Einschätzung nahezu aller Beteiligten um ein wichtiges Thema handelt. Die curricularen Vorgaben der Kultusministerkonferenz für die Weiterentwicklung der Erzieher_innenausbildung in Deutschland auf Niveau sechs des Deutschen Qualifikationsrahmens nehmen an vielen verschiedenen Stellen explizit Bezug auf Genderthemen. Alle Rahmenlehrpläne bzw. die Entwürfe für Rahmenpläne, Ausbildungs- und Prüfungsverordnungen der Bundesländer führen diese in ihrer landesspezifischen Ausgestaltung fort. Über die „Querschnittsaufgabe Inklusion“ sollen zudem zahlreiche Dimensionen von Heterogenität zentrale Berücksichtigung finden – unter anderem Geschlechterrollen und sexuelle Orientierung. Alle Fachschulen und alle Lehrkräfte werden dies dann für das schuleigene Curriculum und den Unterricht konkretisieren müssen. Betrachtet man diese Ebenen, so könnte man zu der Einschätzung kommen, dass das Thema curricular deutlicher und breiter verankert ist als vielleicht noch vor einigen Jahren.
Gender-Kompetenzen systematisiert und fundiert vermitteln
Berücksichtigt man jedoch den oben skizzierten Stand in der Fachdiskussion und führt man sich genauer vor Augen, über welche Kompetenzen Erzieher_innen zum Thema Gender verfügen sollten, so stellt sich die Situation meines Erachtens nicht ganz so befriedigend dar. Die von der Kultusministerkonferenz und den Ländern formulierten Vorgaben sind sehr allgemein, was für Orientierungsvorgaben und Rahmenlehrpläne nicht überraschend ist, oder sehr bereichsspezifisch – so sollen zum Beispiel inhaltlich nicht näher bestimmte Genderaspekte auf Gruppenprozesse bezogen oder in der Selbstreflexion der Studierenden und Fachkräfte berücksichtigt werden können. Es dürfte also nach wie vor stark von der einzelnen Fachschule und von der jeweiligen Lehrkraft abhängen, wie das Thema im Unterricht aufgriffen wird und welche Kompetenzen die Studierenden diesbezüglich tatsächlich weiter entwickeln können. Und selbst wenn alle Lehrkräfte das Thema als wichtiges Querschnittsthema begreifen, so ist noch lange nicht sicher, dass auch an einer Stelle, die verschiedenen Fäden zusammenführt, partikulares Wissen und bereichsbezogene Fertigkeiten systematisiert und fundiert werden.
Raum für Selbstreflexion – Einblick in wissenschaftliche Grundkonzepte – Praxisbezüge zusammenführen
An unserer Fachschule versuchen wir diese Herausforderung derzeit dadurch anzugehen, dass es im Rahmen des Wahlpflicht-Bereichs zumindest eine Lehrveranstaltung explizit dazu gibt. Ausgehend von den sehr unterschiedlichen praktischen (Vor-) Erfahrungen sowie den verschiedenen bereichsspezifischen Kompetenzen und Interessen der Studierenden soll dort mehr Raum für Selbstreflexion geschaffen, mehr Einblick in grundlegende wissenschaftliche Diskussionen, Erkenntnisse und Konzepte ermöglicht sowie die Breite möglicher Ansätze und Praxisbezüge zusammengeführt werden.
Denn sollen sozialpädagogische Fachkräfte über reflektierte und differenzierte Kompetenzen im Sinne eines komplexen und praxisbezogenen ‚Geschlechter-Wissens‘** verfügen, so müsste die Ausbildung nicht nur einen längeren Zeitraum der Selbstreflexion und der Praxisanalyse sichern, sondern auch systematisch Zugang zu grundlegendem Wissen und dezidierten Fertigkeiten bezüglich der gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse und den Mechanismen und Funktionsweisen der damit verbundenen sozialen Hierarchisierungs- und Normierungsprozesse bereit stellen. Dies strukturell für die Gestaltung der Ausbildung anzugehen bzw. weiter auszubauen steht noch aus und ist sicherlich kein einfaches Vorhaben.
Welche Kompetenzen benötigen die Lehrkräfte bzw. Dozent/innen in den Fachschulen und Hochschulen, um Genderkompetenzen bei frühpädagogischen Fachkräften zu fördern?
Bei der Umsetzung der neuen handlungs- und Lernfeld orientierten Ausbildungsstruktur scheinen die meisten Fachschulen weiterhin der Fachlichkeit ihrer Lehrkräfte einen hohen Stellenwert beizumessen – zumindest sehe ich das bei der gegenwärtigen Erprobung der neuen Studien-Struktur bei den Fachschulen im Land Berlin. Das heißt die fachlichen Perspektiven zum Beispiel auf den Bildungsbereich Musik, auf pädagogische Beobachtungsverfahren oder auf entwicklungspsychologische Grundlagen werden tatsächlich weiterhin von Expert_innen mit entsprechender Fakultas unterrichtet.
Diese Expertise und fachliche Kontinuität halte ich mit für eine Voraussetzung dafür, dass bereichsspezifisches Wissen und kontextbezogene Fertigkeiten zu Gender beispielsweise im Kontext von Bewegungsangeboten oder beim Blick auf die Aneignung des Raums durch die Kinder angeeignet werden können. Kritisch sehe ich die Möglichkeiten allerdings dann, wenn (wie bei sehr kleinen Anbietern auf dem Bildungsmarkt) die entsprechende Bandbreite an Fachlichkeiten nicht sicher gestellt ist und dazu punktuell immer wieder andere Lehrkräfte auf Honorarbasis hingezogen werden müssen oder wenn eine Lehrkraft Fakultas fremde oder gar nahezu alle fachlichen Bereiche unterrichten soll.
Geht man davon aus, dass für einen fachlich angemessenen – nämlich reflektierten und differenzierten – Zugang zum Thema Gender auch ein systematisches und wissenschaftliches Wissen gehört, so kommt es allerdings außerdem darauf an, dass zumindest einige Lehrkräfte, die für diese Grundlagen und diese Systematik verantwortlich sind, umfassender qualifiziert sind. Oftmals sind die Lehrkräfte an Fachschulen für Genderthemen im Bereich ihrer Fakultas sehr sensibilisiert und kompetent bzw. sie sind in der Ausgangslage, sich hierzu gegebenenfalls rasch fortzubilden. Allerdings verfügen sie damit nicht automatisch über die oben beschriebene grundlegende Expertise zum Thema Gender. Dazu zähle ich beispielsweise Wissen darüber, was das Konzept des Doing Gender oder ein Verständnis von Geschlecht als Strukturkategorie bedeutet und impliziert.
Es wäre wichtig, dass Gender als Teil der Querschnittsaufgabe Inklusion ebenso wie andere Querschnittsaufgaben wie zum Beispiel Sprachbildung, Medienbildung oder Bildung für nachhaltige Entwicklung zumindest an einer Stelle in der Ausbildung von Lehrkräften mit einer einschlägigen systematischen Expertise unterrichtet wird.
Ähnliches gilt für die Begleitung bei der Weiterentwicklung der Selbst- und Sozialkompetenzen, die ja nicht nur mit Blick auf das Thema Gender als grundsätzlich eng mit den Fachkompetenzen verknüpft zu denken sind.
Vielen Dank für das Interview!
* Vgl. dazu auch das Interview mit Barbara Rendtorff in der Dezember-Ausgabe unseres Newsletters
** Vgl. dazu auch das Konzept eines praxeologischen „Geschlechter-Wissens“: Andresen / Dölling / Kimmerle 2003.
Im Interview erwähnte Literatur :
- Baltes-Löhr 2014: Von binären zu geschlechterpluralen Ansätzen. In: Schneider / Baltes-Löhr (Hg.): Normierte Kinder. Effekt der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz. (S. 337-361)
- Cremers / Krabel 2012: Generalverdacht und sexueller Missbrauch in Kitas: Bestandsanalyse und Bausteine für ein Schutzkonzept. In: Koordinationsstelle Männer in Kitas (Hg.): Männer in Kitas (S. 265-285)
- Faulstich-Wieland u.a. 2004: Doing Gender im heutigen Schulalltag.
- Helbig 2013: Geschlecht und Bildungserfolg
- Herwatz-Emden u.a. 2012: Mädchen und Jungen in Schule und Unterricht.
- Rohrmann / Wanzeck-Sielert 2014: Mädchen und Jungen in der KiTa.
- Rose / May (Hg.) 2014: Mehr Männer in die Soziale Arbeit?
- Rieske 2011: Bildung von Geschlecht.
- Schneider / Baltes-Löhr (Hg.) 2014: Normierte Kinder. Effekt der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz. (S. 337-361); vgl. auch Rohrmann / Wanzeck-Sielert 2014: Mädchen und Jungen in der KiTa.
- Tuider 2012: Sexualpädagogik der Vielfalt