16.03.2016

Dr. Irene Pimminger

Interview zur existenzsichernden Beschäftigung

Die Förderung „sorgender Männlichkeiten“, nicht nur familienpolitisch durch die Förderung aktiver Vaterschaft, sondern auch arbeitsmarktpolitisch durch die Integration von Männern in Erziehungs- und Pflegeberufe, kann demnach positive Veränderungen des Männlichkeitsleitbildes und damit des Geschlechterverhältnisses bewirken. Foto: privat.

Dr. Irene Pimminger ist Sozialwissenschaftlerin und leitet defacto – Sozialwissenschaftliche Forschung & Beratung (www.defacto-forschung.eu). Ihre Schwerpunkte sind Geschlechterforschung, Gleichstellungspolitik, Arbeitsmarkt und Beschäftigung, Sozialpolitik sowie Europäische Strukturfonds. Für die Agentur für Querschnittsziele im ESF hat sie unter anderem eine Expertise zum Thema existenzsichernde Beschäftigung von Frauen und Männern erstellt.

Sie haben 2015 eine Expertise zur existenzsichernden Beschäftigung veröffentlicht. Was verstehen Sie unter existenzsichernder Beschäftigung? Inwiefern lässt sich Ihr Konzept (nicht) auf die Situation von Berufswechsler/innen übertragen?

Ausgangs- und Bezugspunkt der Expertise, die von der Agentur für Querschnittsziele im ESF im Auftrag des BMAS veröffentlicht wurde, ist das Ziel der gleichen wirtschaftlichen Unabhängigkeit von Frauen und Männern. Dieses Ziel ist in der bisherigen Gleichstellungsstrategie und im neuen gleichstellungspolitischen Rahmenplan der Europäischen Kommission verankert, und es ist eines der konkreten Gleichstellungsziele im aktuellen Operationellen Programm des Bundes zur Umsetzung des ESF von 2014 bis 2020. Die Mindestvoraussetzung für wirtschaftliche Unabhängigkeit ist es, zumindest über ein Einkommen in Höhe des Existenzminimums zu verfügen, also über das notwendige Minimum zur Sicherung der physischen Existenz und eines Mindestmaßes an gesellschaftlicher Teilhabe.

Zur Beantwortung der Frage, wie hoch in Deutschland ein Erwerbseinkommen sein muss, damit es – bemessen am sozial- und steuerrechtlich definierten Existenzminimum – existenzsichernd ist, habe ich mehrere Prämissen zugrunde gelegt. Erstens geht es um das individuelle Einkommen und eine eigenständige Existenzsicherung unabhängig vom Haushaltskontext und dem Familienmodell, da das zugrunde liegende Ziel die gleiche wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen und Männern ist. Die in Deutschland nach wie vor weit verbreitete familiäre Arbeitsteilung – männlicher „Haupternährer“ in Vollzeitbeschäftigung und weibliche „Zuverdienerin“ mit Minijob oder Teilzeitbeschäftigung – birgt für Frauen finanzielle Abhängigkeiten und im Falle einer Trennung ein hohes Armutsrisiko.

Eine weitere Prämisse ist in diesem Zusammenhang, dass sich der Anspruch auf eine eigenständige Existenzsicherung auch auf Personen mit Kindern erstrecken muss. Nicht nur die eigene, sondern auch die Existenz von abhängigen minderjährigen Kindern muss unabhängig von der Familienform gesichert sein. Auch eine Veränderung der familiären Konstellation darf also nicht zu einem Abrutschen unter das Existenzminimum führen. Rund ein Fünftel der Familien in Deutschland mit minderjährigen Kindern sind Einelternfamilien, und gegenwärtig ist ein großer Teil von ihnen auf Sozialhilfe angewiesen.

Schließlich kann die Frage, ob eine Beschäftigung existenzsichernd ist, nicht nur daran bemessen werden, welches Einkommen einer Person daraus unmittelbar monatlich zur Verfügung steht, also kurzfristig existenzsichernd ist. Mit Blick auf den gesamten Lebensverlauf muss ein Monatseinkommen hoch genug sein, um daraus Ansprüche auf eine ausreichende eigenständige Absicherung auch für Zeiten zu erwerben, in denen keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen werden kann. Das sind im Wesentlichen Arbeitslosigkeit, Elternzeit und Pflege von Angehörigen sowie Erwerbsunfähigkeit und Alter. Denn Ansprüche auf und die Höhe der sozialen Sicherung hängen in Deutschland hauptsächlich von der Dauer der vorangegangenen Beschäftigung und der Höhe des dabei erzielten Erwerbseinkommens ab. Im Jahr 2015 lagen die Grenzwerte für ein langfristig existenzsicherndes Erwerbseinkommen in diesem Sinne für eine kinderlose Person bei 2.458 € brutto pro Monat und für eine Person mit einem Kind unter sechs Jahren bei 3.230 €.

Mit Blick auf die Situation von Berufswechslerinnen und Berufswechslern ist zunächst das Kriterium der Eigenständigkeit in der Existenzsicherung relevant, da es sich um Erwachsene handelt, die ihre Herkunftsfamilie schon länger verlassen haben und möglicherweise auch schon eigene Kinder haben. In der Lebensverlaufsperspektive handelt es sich bei ihrer Situation um einen Übergang, das heißt um eine zeitlich befristete Lebensphase mit langfristigen Auswirkungen auf den weiteren Berufsweg und die künftigen Einkommenschancen. Vor diesem Hintergrund lässt sich einerseits argumentieren, dass ein kurzfristig existenzsicherndes Einkommen notwendig ist, sich jedoch die Höhe einer finanziellen Unterstützung oder Vergütung der Ausbildung nicht unbedingt an den Grenzwerten für eine langfristige Existenzsicherung orientieren muss. Die Grenzwerte für ein kurzfristig existenzsicherndes Monatseinkommen lagen 2015 bei 1.217 € brutto für eine kinderlose Person und bei 1.614 € brutto für eine Person mit einem Kind, berechnet auf Grundlage des sozial- und steuerrechtlich definierten Existenzminimums. Andererseits rückt damit aber auch die Frage in den Vordergrund, ob die zu erzielenden Einkommen in den geförderten Zielberufen hoch genug für eine langfristige eigenständige Existenzsicherung sind. Eine aktive Förderung des Berufswechsels sollte deshalb mit der Frage verbunden werden, ob in den Zielberufen langfristig existenzsichernde Einkommen zu erzielen sind bzw. wie das Einkommensniveau in diesen Berufen entsprechend erhöht werden kann.

In Ihrer Publikation „Gender Mainstreaming im Europäischen Sozialfonds. Ziele, Methoden, Perspektiven“ machen Sie deutlich: „Durch eine Fokussierung des Querschnittsziels der Gleichstellung auf die Förderung existenzsichernder Beschäftigung könnte ein deutlicheres gleichstellungspolitisches Signal gesetzt werden.“
Wieso ist das so? Welche Impulse könnten von einer existenzsichernden Beschäftigung auf Berufe mit hohem fürsorgenden und pflegerischen Anteil ausgehen?

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen ist in den letzten zwei Jahrzehnten in Westdeutschland stark gestiegen, dieser Anstieg ist jedoch in erster Linie auf eine starke Ausweitung von geringfügiger und Teilzeitbeschäftigung zurückzuführen. Aus gleichstellungspolitischer Sicht geht es vor diesem Hintergrund nicht nur um eine Erhöhung der Erwerbstätigenquote von Frauen, sondern auch um die Frage nach Arbeitsumfang und Einkommen. Mittlerweile ist im ESF-Programm des Bundes zur aktuellen Förderperiode 2014 bis 2020 das Ziel „Erhöhung der existenzsichernden Erwerbstätigkeit von Frauen und ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit“ explizit verankert. Das ist ein wichtiges und erfreuliches Signal.

Frauen haben nicht nur aufgrund von Erwerbsunterbrechungen und Teilzeitarbeit ein niedrigeres Erwerbseinkommen, sondern auch aufgrund von niedrigen Löhnen in frauendominierten Beschäftigungsbereichen wie den Fürsorgeberufen. Deshalb erwerben Frauen geringere, häufig nicht existenzsichernde Anwartschaften, bspw. in der Rentenversicherung. Die Frage, ob ein Erwerbseinkommen langfristig existenzsichernd ist, stellt sich also in frauendominierten Berufsfeldern besonders dringlich, verschärft durch die große Verbreitung von Teilzeitbeschäftigung in diesen Bereichen. Bezeichnend ist, dass im Gesundheits- und Sozialwesen sowie im Bildungsbereich Beschäftigte vergleichsweise häufig zusätzlich zu ihrer Anstellung einen geringfügigen Nebenjob im gleichen Berufsfeld ausüben.

Das Ziel der existenzsichernden Beschäftigung ist also ein wichtiges Argument für die Erhöhung des Einkommensniveaus in Fürsorgeberufen. Die Grenzwerte für eine eigenständige Existenzsicherung markieren dabei Untergrenzen. Die Frage, wie hoch das Einkommensniveau sein soll, um in Bezug auf die Verantwortung, die Anforderungen und Belastungen in diesen Berufen genauso wie im Hinblick auf die gesellschaftliche Bedeutung dieser Arbeit angemessen zu sein, ist damit allerdings noch nicht ausreichend beantwortet.

Männer gehen insbesondere dann häufiger in weiblich dominierte Berufsfelder, wenn sich dort die Einkommens- und Karriereperspektiven verbessern. Das ist aus meiner Sicht zwar kein Argument für eine Erhöhung des Einkommensniveaus in Fürsorgeberufen, denn die Frage, was eine den Anforderungen angemessene Entlohnung dieser Tätigkeiten und eine adäquate Anerkennung dieser gesellschaftlich wertvollen Arbeit ist, muss unabhängig davon gestellt werden, wer diese Tätigkeiten ausübt. Wenn damit Anreize für Männer entstehen, vermehrt diese Berufe auszuüben, so ist das jedoch etwa im Hinblick auf den Abbau von Geschlechterstereotypen ein willkommener Nebeneffekt.

Was bedeutet für Sie Geschlechtergerechtigkeit im Zusammenhang mit dem Thema Quereinstieg in Kitas bzw. Männer in Kitas?

Initiativen zur Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern richten sich hauptsächlich an Frauen, insbesondere im Hinblick auf ihre Integration in das Erwerbsleben. In Anbetracht der bestehenden Ungleichheiten bei Einkommen und sozialer Absicherung zuungunsten von Frauen ist das ein begründeter Fokus. Solange jedoch Männer nicht den gleichen Anteil an familiärer Fürsorgearbeit übernehmen wie Frauen, kann eine gleichwertige Integration von Frauen in das Erwerbsleben nicht gelingen. Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, dass sich gleichstellungspolitische Anstrengungen nicht nur auf die Erwerbsbeteiligung von Frauen, sondern auch auf die Beteiligung von Männern an familiärer Fürsorgearbeit richten sollten. Im Hinblick auf das Ziel der Gleichstellung von Frauen und Männern ist im Sinne einer gerechteren Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit also nicht nur die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen, sondern umgekehrt ebenso die Förderung einer stärkeren Beteiligung von Männern an familiärer Fürsorgearbeit ein zentrales gleichstellungspolitisches Anliegen.

In diesem Zusammenhang stellt eine stärkere Integration von Männern in traditionell weiblich dominierte Berufe, allen voran in den Bereichen Erziehung und Pflege, einen wichtigen Interventionsansatz dar, um die Vergeschlechtlichung von sowohl familiärer als auch professioneller Fürsorgearbeit als „weibliche“ Tätigkeit aufzubrechen und Fürsorge insgesamt stärker in das Männlichkeitsleitbild und männliche Lebensmuster zu integrieren. Männer, die in bislang frauendominierten Fürsorgeberufen arbeiten, sind wichtige Rollenvorbilder für Kinder, Jugendliche und andere Männer. Sie tragen zum Abbau der vorherrschenden Geschlechternormen bei, die die männliche Identität in ein enges Korsett traditioneller Männlichkeit zwängen, und machen die Vielfalt von Männlichkeiten stärker öffentlich sichtbar. Die Förderung „sorgender Männlichkeiten“, nicht nur familienpolitisch durch die Förderung aktiver Vaterschaft, sondern auch arbeitsmarktpolitisch durch die Integration von Männern in Erziehungs- und Pflegeberufe, kann demnach positive Veränderungen des Männlichkeitsleitbildes und damit des Geschlechterverhältnisses bewirken.

Vielen Dank für das Interview!

Hintergrundmaterial zum Interview:

Factsheet Existenzsicherung der Agentur für Querschnittsziele im ESF |
http://www.esf-querschnittszie-le.de/fileadmin/DATEN/Publikationen/factsheet_existenzsicherung_301115.pdf

Erläuterungen zur Berechnung der Grenzwerte zur langfristigen Existenzsicherung finden sich in Kapitel 4 der Expertise „Existenzsichernde Beschäftigung von Frauen und Männern mit und ohne Migrationshintergrund“ |
http://www.esf-querschnittsziele.de/fileadmin/DATEN/Publikationen/expertise_existenzsicherung_301115.pdf  

Publikation der Gerwerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zum Verdienst von Erzie-her/innen |
http://www.gew-wiesbaden.de/uploads/media/SuE-EGO-Pressehintergrundgespr%C3%A4ch_2015-01-22_end.pdf