18.09.2017

„Qualifizierung von Quereinsteigern ist eine Aufgabe, die man nicht nebenbei erledigen kann“

Ulrike Klevenz im Interview über die Anrechnung Auszubildender auf den Personalschlüssel.

Foto: privat.

In Brandenburg gibt es neben anderen Möglichkeiten der Erzieher/innenausbildung eine dreijährige tätigkeitsbegleitende Erzieher/innen-Ausbildung in Teilzeitform. Dabei hat der Träger die Möglichkeit, die auszubildende Person mit 70  Prozent ihrer tatsächlichen praktischen Tätigkeit auf den Personalschlüssel anzurechnen. Seit Juli dieses Jahres ist eine Anrechnung von 80 Prozent möglich.

Wir haben Ulrike Klevenz in einem schriftlichen Interview zur Anrechnung auf den Personalschlüssel und den damit verbundenen Herausforderungen befragt. Sie ist Verwaltungswissenschaftlerin und stellvertretende Leiterin des Referats für Kindertagesbetreuung und familienunterstützende Angebote des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (MBJS).

Wieso hat sich Brandenburg für diese Regelung zur Anrechnung entschieden? Warum erfolgte eine Anhebung auf  80 Prozent?

Das Land Brandenburg hat im Jahr 2010 die Kita-Personalverordnung erweitert und Möglichkeiten für den Quereinstieg geschaffen: für die tätigkeitsbegleitende Qualifizierung, für die individuelle Bildungsplanung für Personen mit Vorerfahrungen und Vorwissen im pädagogischen Feld, denen nur noch bestimmte kita-spezifische Kenntnisse und Kompetenzen fehlen (z. B. Heilerziehungspflegerinnen), sowie für profilergänzende Kräfte, die zum Beispiel als Theaterpädagogin oder Künstler zur Umsetzung des Profils der Kita beitragen.

Vielfalt im Team

Es war aus unserer Sicht fachlich wünschenswert, interessierten Menschen mit unterschiedlichen persönlichen und beruflichen Hintergründen sowie verschiedenem Alter eine Möglichkeit des Zugangs zu diesem Arbeitsfeld zu verschaffen und damit auch für eine größere Vielfalt in den Teams zu sorgen. Aus diesem Grund sollte auch der Zugang zum Erziehungsberuf durch tätigkeitsbegleitende Ausbildungen erleichtert werden.

Profis für die Praxis

Vorausgegangen waren immer wieder Einzelanfragen von Trägern, bestimmte Personen ohne entsprechende einschlägige Erfahrung beschäftigen zu können, und vor allem die sehr guten Erfahrungen mit der zweijährigen Qualifizierung „Profis für die Praxis“, die im Jahr 2005 als sogenannte Männerqualifizierung gestartet war und die sich besonders durch ihre enge Verzahnung von Seminar- und Praxisphasen auszeichnet.

Weitere Informationen:
https://mbjs.brandenburg.de/sixcms/detail.php/bb1.c.248439.de

Vergleichbares Niveau

Durch dieses Qualifizierungsmodell konnten seit 2010 insgesamt 460 Menschen für eine Tätigkeit in der Kindertagesbetreuung gewonnen werden. Nicht nur die Rückmeldungen aus der Praxis waren sehr positiv, auch eine wissenschaftliche Evaluation von „Profis für die Praxis“ zeigte, dass die für das Arbeitsfeld Kindertagesbetreuung qualifizierten Kräfte in Bezug auf die Prozessqualität (also die pädagogische Interaktion mit den Kindern) auf vergleichbarem Niveau liegen wie die bisher über traditionelle Wege ausgebildeten Fachschulerzieher/innen (Tietze u.a. 2010, Qualifizierung von langzeitarbeitslosen Männern zu Erziehern im Land Brandenburg – Evaluation ihrer pädagogischen Praxis im Berufsfeld.)

Weitere Informationen:
https://mbjs.brandenburg.de/media_fast/4113/CB_Bericht20100422_korr.pdf

Qualität für multiprofessionelle Teams

Es haben also von Anfang an nicht nur quantitative Gründe zur Deckung von Fachkräftebedarfen eine Rolle gespielt, sondern ebenso stark auch qualitative Gründe. Damit haben wir natürlich auch einen wichtigen Grundstein gelegt und Anreiz gesetzt für die Entwicklung multiprofessioneller Teams!

Die Anrechnung von 70 Prozent der tatsächlichen praktischen Tätigkeit auf den Personalschlüssel trug dabei sowohl der Anleitungsnotwendigkeit und des zunächst eingeschränkten Arbeitsvermögens dieser Kräfte Rechnung als auch der Möglichkeit der Refinanzierung.

Refinanzierung sichern

Die positiven Rückmeldungen aus der Praxis und die kontinuierliche Begleitung und Reflexion an den Lernorten Praxis und Schule während der tätigkeitsbegleitenden Qualifizierung haben eine Erhöhung der Anrechnung als notwendiges pädagogisches Personal von 70  Prozent auf 80  Prozent des praktischen Tätigkeitsumfangs als gerechtfertigt und sinnvoll erscheinen lassen. Gleichzeitig wird es damit den Trägern weiter erleichtert, die Refinanzierung des Einsatzes dieser Kräfte zu sichern.

Profilergänzungskräfte

Unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung multiprofessioneller Teams finde ich auch noch die Profilergänzungskräfte nach §10 Abs. 4 Kita-Personalverordnung erwähnenswert: Viele Kräfte, die bislang nach diesem Absatz auf das notwenige pädagogische Personal gemäß §10 des Kindertagesstättengesetzes angerechnet werden, werden nicht nur temporär oder für Projekte eingesetzt, sondern tragen mit ihrer besonderen Qualifikation durch auf Dauer angelegte kontinuierliche Angebote wesentlich zur Umsetzung eines Profilschwerpunkts der Einrichtung bei. In diesen Fällen erweitern sie das qualifizierte Kompetenz- und Personaltableau der Einrichtung und können deshalb seit dem 1. August 2017 auch zu 100  Prozent ihres praktischen Tätigkeitsumfangs auf das notwendige pädagogische Personal angerechnet werden.

Die Anrechnung auf den Personalschlüssel kann zu großen Herausforderungen im Team führen.
Welche Erfahrungen liegen in Brandenburg dazu vor?

Faktisch gibt es sehr viel positive Resonanz; ein Zeichen dafür sind sicher auch die mehr als 3.300 qualifizierten Personen, die seit 2010 über diesen Weg ins Feld kamen. Richtig ist aber auch, dass die Integration und Qualifizierung von Quereinsteigern eine Aufgabe ist, die man nicht so nebenbei erledigen kann.

Strukturierte Anleitung

Nach unserem Eindruck und dem, was uns aus der Praxis berichtet wird, gelingt diese Aufgabe umso besser, wenn eine Kita sich als Ausbildungsort begreift, wenn dementsprechend eine strukturierte Anleitung und Qualifizierung durch qualifizierte Anleiterinnen und Anleiter und eine gute Dienstplangestaltung gewährleistet sind, wenn Teamprozesse fachlich begleitet werden. Wichtig ist natürlich auch, dass der Träger die Kita unterstützt und dass Leitung und Träger gut im Gespräch sind über Fragen der Personalentwicklung – nicht zuletzt darüber, wie viele Quereinsteiger/innen und Praktikanten/innen das Team gleichzeitig stemmen kann.

Fortbildung

Das MBJS begleitet und unterstützt diese Prozesse fachlich: für Träger zum Beispiel aktuell durch ein Fortbildungstool zur Personaleinsatzsteuerung (dazu haben gerade erste Webinare stattgefunden, mit sehr positiver Resonanz). Auch gibt es Anleitungs-Fortbildungen beim Sozialpädagogischen Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg, Kitas bekommen für Quereinsteigende eine zusätzliche Wochenstunde Anleitungszeit im Rahmen des Landesprogramms „Zeit für Anleitung“, und im Landesprogramm „Konsultationskitas Fachkräftegewinnung und – qualifizierung“ haben die beteiligten Kitas „Standards für die Fachkräftequalifizierung am Lernort Praxis“ erarbeitet.

Mehr Informationen:
https://mbjs.brandenburg.de/sixcms/detail.php/bb1.c.313302.de

Gewinnt die Ausbildung an Qualität, besonders am Lernort Praxis, wenn die Anrechnung geringer oder höher ausfällt?

Meines Erachtens sorgt alleine die Anrechnungszeit nicht für mehr oder weniger Qualität der Ausbildung. Vielmehr sind es die Qualität der Anleitung und die Unterstützung des gesamten Teams. Wenn Träger und Team sich bewusst sind, dass ein gutes Angebot als Lernort Praxis auch eine gute Möglichkeit ist, Fachkräfte zu gewinnen und zu binden, zu deren Qualifizierung man im eigenen Sinne beitragen kann, dann fällt die Investition in diese Personen sicher auch leichter, unabhängig von der Anrechnungszeit. Grundsätzlich gilt es natürlich, die Waage zu halten zwischen dem Bedürfnis, Personalbedarfe zu decken, und dem Auftrag und Anspruch, ein gutes pädagogisches Angebot zu unterbreiten und Kinder und ihre Familien gut zu begleiten.  

Welche Rolle werden vergütete Ausbildungsmodelle vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels in Ihrem Bundesland mittel- und langfristig spielen?

Die Bundeskinder- und Jugendhilfestatistik für das Land Brandenburg weist für das Jahr 2010 rund 11.990 Vollzeitstellen und 14.590 tätige Fachkräfte aus – im Jahr 2016 rund 15.810 Vollzeitstellen (ein Plus von 3.820 Stellen) und 18.970 tätige Fachkräfte (ein Plus von 4.380 Fachkräften)!

Kein allgemeiner Fachkräftemangel

Dem wachsenden Fachkräftebedarf – nicht zuletzt durch kontinuierliche Personalschlüsselverbesserungen seit 2015 – standen und stehen vielfältige Maßnahmen und Strategien zu einer steigenden Zahl an qualifizierten Fachkräften gegenüber; einige habe ich ja beschrieben. Auch wenn also gelegentlich ein flächendeckender Fachkräftemangel in der Kindertagesbetreuung im Land Brandenburg postuliert wird, so lassen die Erfahrungen der letzten Jahre, die Ausbildungs- und Qualifizierungszahlen und die Instrumente für den Quereinstieg nicht die Schlussfolgerung zu, dass – abgesehen von punktuellen und regionalen Engpässen – ein allgemeiner Fachkräftemangel besteht.

Fachkräftebindung nötig

In diesem Zusammenhang muss aber auch erwähnt werden, dass Rückmeldungen aus der Praxis darauf hinweisen, dass auch Träger und Leitungen selbst investieren müssen, um die gebotenen Wege und Chancen zu nutzen: Die starke Nachfrage nach guten und geeigneten Fachkräften erlaubt es diesen, die Einrichtung oder den Arbeitgeber zu wechseln, wenn sie mit gegebenen Bedingungen nicht zufrieden sind. Träger müssen potenziellen Beschäftigten also auch etwas anbieten: eine tarifliche Bezahlung gewährleisten, gute Leitungskräfte installieren und qualifizieren, Prozesse zur Qualitätssicherung und -entwicklung etablieren, Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten eröffnen.

Trägerqualität ist damit ein Thema, das unmittelbar mit dem der Fachkräftesicherung verknüpft ist und zukünftig sicher weiter an Bedeutung gewinnen wird.

Neu und auch mal quer denken

Ich würde mir in der Diskussion um den Fachkräftebedarf in der Kindertagesbetreuung manchmal etwas mehr Differenziertheit wünschen. Ja, in allen Bundesländern und auf allen Akteursebenen müssen wir unsere Strategien zur Fachkräftegewinnung kontinuierlich weiterentwickeln – dazu gehört meines Erachtens auch der Ausbau von Modellen vergüteter Ausbildung –, aber auch neu und mal quer denken. Ich befürchte aber, dass das Heraufbeschwören einer flächendeckenden bundesdeutschen Mangelsituation, wie es derzeit mitunter betrieben wird, unter dem Strich wenig hilfreich ist, sondern im Gegenteil eher dazu führt, dass der Ruf nach schnellen und vermeintlich einfachen Lösungen wie dem Einsatz geringer qualifizierter Hilfskräfte lauter und erfolgreicher wird, lange bevor wir wirklich die Alternativen ausgeschöpft haben.

Vielen Dank für das Interview!