03.11.2019

Gleichstellung ist immer noch eine Vision – keine Realität

Irmgard Diewald forschte zu „Männlichkeiten im Wandel“. Sie findet, dass vergeschlechtlichte Strukturen innerhalb des elementarpädagogischen Bereichs aufgebrochen werden müssen, um wirkliche gesellschaftliche Veränderungen zu erwirken.

Foto: privat.

Darf ich mich vorstellen?

In der Frage nach (mehr) Männer* in Kitas verknüpfen sich mein Bachelor der Sozial- und Organisationspädagogik an der Universität Hildesheim sowie der daran anschließende Master der Politikwissenschaft an der Universität Marburg. In diesem lagen meine Studienschwerpunkte auf Gleichstellungspolitik und Geschlechterforschung. Im Rahmen meiner Promotion, „Männlichkeiten im Wandel. Zur Regierung von Geschlecht in der deutschen und schwedischen Debatte um „Männer in Kitas“ (Diewald 2018) habe ich mich aus einer ländervergleichenden Perspektive intensiv mit der Frage nach Männern* im elementarpädagogischen Bereich auseinandergesetzt. Die Koordinationsstelle wurde dabei zu einem zentralen Forschungsgegenstand meiner Arbeit. Mittlerweile stellt sich mir die Frage nach Männern* in Kitas, beziehungsweise Männern* und Care-Arbeit aus persönlicher Sicht noch einmal aus einer etwas anderen Perspektive. Deutlich wird für mich, wie schwer es ist (feministische) Theorie und gelebte Praxis miteinander zu vereinen, wie präsent und wirkmächtig vergeschlechtlichte Vorstellungen in unserem Alltag / Leben doch sind.

An welches Erlebnis mit der Koordinationsstelle „Chance Quereinstieg/Männer in Kitas“ denken Sie gerne zurück?

Besondere Begegnungen waren für mich die Interviews, die ich im Rahmen meiner Promotion mit Personen aus der Koordinationsstelle führen konnte. Diese waren für mich wertvolle Irritationen, welche meine Forschungsperspektive maßgeblich beeinflusst haben. Eine zentrale Erkenntnis war für mich, dass es der Debatte nicht gerecht wird, bestimmte Strategien oder Aussagen an einzelnen Akteur*innen festzumachen. Vielmehr sind unter dem Deckmantel „Männer in Kitas“ ganz unterschiedliche Vorstellungen, Erwartungen und Zielsetzungen zu finden, die auch innerhalb einer Person stark variieren können.

Ein Aha-Moment während der Interviews waren hier für mich die Erzählungen rund um die Namensgebung der Koordinationsstelle. So wurde als weitere Namensoption auch „Gender in Kitas“ diskutiert, welche jedoch nicht die politische Ausrichtung des Programms widerspiegelte, damit nicht politisch gewollt war und gleichzeitig nicht die gewünschte Öffentlichkeitswirksamkeit zu erwarten war.

Sehr gerne denke ich auch an einen Vortrag, den ich im Rahmen der Special Interest Group „Gender Balance“ auf der EECERA in Dublin halten konnte (European Early Childhood Education Research Association), und den daran anschließenden gemeinsamen Kneipenabend, mit einem Teil der Koordinationsstelle, in Dublin zurück.

Wir haben in den letzten Jahren im Rahmen des Themenfelds „Männer in Kitas“ in Kontakt gestanden. Wie hat sich das Themenfeld in den letzten Jahren entwickelt?

Zum ersten Mal mit der Frage nach Männern* in Kitas bin ich im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Veränderung von Personalstrukturen in diesem Bereich in Berührung gekommen. Dieses habe ich 2010 / 2011 im Rahmen meines Masterstudiums im Bereich Politik- und Geschlechterverhältnisse durchgeführt. Erkenntnisinteresse des Projekts war, inwiefern sich Personalstrukturen in Kindertagesstätten ausdifferenzieren. In fast jedem Interview, welches ich mit Kitaverantwortlichen auf kommunaler Ebene geführt habe, kam irgendwie das Thema „Männer in Kitas“ zur Sprache und dass das jetzt ja politisch gewollt sei.

Für mich war aus damaliger Sicht spannend, warum ein auf den ersten Blick feministisches Projekt, nämlich die Veränderung tradierter, geschlechtsspezifischer Arbeitsmarktstrukturen, mit Kristina Schröder als Familienministerin von einer konservativen Regierung auf die politische Agenda gesetzt und als gleichstellungspolitisches Vorreiterprogramm propagiert wurde.

In diese Zeit fällt auch meine erste „Begegnung“ mit der Koordinationsstelle auf der Konferenz „Mehr Männer in die Soziale Arbeit!? Kontroversen, Konflikte, Konkurrenzen“ in Frankfurt. Hier kann ich mich noch an eine emotional aufgeladene Debatte erinnern, die retrospektiv sicherlich auch aus der öffentlichkeitswirksamen politischen Ausrichtung der Koordinationsstelle resultierte, welche auf die quantitative Forderung eines Mehr an Männern* fokussierte. Dies ging oftmals mit der Abwertung eines feminisierten elementarpädagogischen Bereichs einher. So war die Rekrutierung von mehr Männern* ein Teil einer neuen gleichstellungspolitischen Männerpolitik, die als neu und innovativ propagiert wurde. Ebenso wurde die Debatte durch den Diskurs „Jungen als Bildungsverlierer“ geprägt. Argumentationsfigur war, dass es aufgrund eines feminisierten Kitabereichs Jungen an Vorbildern fehle. Dies ging oft mit einer Abwertung weiblicher Erzieherinnen und einer vermeintlichen weiblichen Kuschelpädagogik einher.

Mit der Zeit wurde die Debatte jedoch sehr viel differenzierter. Durch die angestoßene Auseinandersetzung der Koordinationsstelle, mit der Frage nach Geschlechterverhältnissen im elementarpädagogischen Bereich, wurden damit wichtige Räume eröffnet, um Geschlecht zum Thema zu machen. Gut kann ich mich zum Beispiel noch daran erinnern, dass zu Beginn der Konferenz „Männer in der Elementarpädagogik“ im September 2012 in Berlin verschiedene, teilweise konträre Äußerungen von verschiedenen Positionen im Raum ins Publikum gesprochen wurden. Die Forderung nach einem rein quantitativen Mehr wurde zu viel mehr als der rein quantitativen Rekrutierung männlichen Personals. Zum Thema wurden vergeschlechtlichte Strukturen innerhalb des elementarpädagogischen Bereichs, die es gilt sichtbar zu machen und aufzubrechen, um wirkliche gesellschaftliche Veränderungen zu erwirken.

Was braucht es künftig für das Themenfeld „Männer in Kitas“?

Das Themenfeld „Männer in Kitas“ ist unauflösbar verknüpft mit der Frage nach der Übernahme von Care-Arbeit im frühkindlichen Bereich. Damit ist es ein Thema, welches an tradierten, vergeschlechtlichten gesellschaftlichen Grundfesten rüttelt. Hierbei sind wir immer wieder mit vergeschlechtlichten Grenzziehungen, die wir oft gar nicht wahrnehmen (können), konfrontiert.

So wird Geschlecht, und damit männliche Erzieher, auf der Suche nach einem Betreuungsplatz, in der Frage, wem vertraue ich mein Kind an, automatisch zum Thema. Hierbei wird Kinderbetreuung sozialisationsbedingt oftmals als weiblich gedacht. Aus diesem Grund greifen jedoch Maßnahmen, wie eine bessere Bezahlung oder die Aufwertung des Berufsfelds, – was natürlich beides sehr wünschenswert ist – unabhängig vom Geschlecht des Personals zu kurz. Vielmehr geht es darum zu lernen, vergeschlechtlichte Grenzziehungen im Bereich der Care-Arbeit zu erkennen, Räume zu schaffen, darüber zu diskutieren und neue Wege begehbar zu machen. Kinderbetreuung eben nicht per se mit einem bestimmten Geschlecht zu verbinden.

Ein zentraler Auseinandersetzungspunkt wird hier die Frage nach Geschlechterwissen. Welche Vorstellungen haben wir, wie Männer* und Frauen* sind, beziehungsweise zu sein haben? Diese impliziten Vorstellungen und Selbstverständlichkeiten gilt es, soweit dies überhaupt möglich ist, zu hinterfragen und immer wieder neu auf den Prüfstand zu stellen.

Was ist aus Ihrer Sicht ein offener Punkt, der noch bearbeitet werden müsste? Wer sollte das tun? Was braucht es dafür?

In der Frage um (mehr) Männer* in Kitas geht es immer auch um Geschlechterkonstruktionen. Deshalb denke ich, ist es von zentraler Bedeutung die Arbeit der Koordinationsstelle fortzuführen, um vergeschlechtlichte Strukturen im elementarpädagogischen Bereich zum Thema zu machen. Darüber zu sprechen: Was ist für uns eigentlich männlich und weiblich, welche (impliziten) Erwartungen sind damit verbunden und wie ist es möglich, tradierte Strukturen, Vorstellungen und Verhaltensmuster zu verändern?

Fatal wäre es zu denken, es sei eine rein individuelle Entscheidung, welchen Beruf eine Person wählt und Gleichstellung sei bereits erreicht. Deshalb sollte „Männer* in Kitas“ oder vielmehr Gender in Kitas noch viele Jahrzehnte ein gesellschaftlich aktuelles und brisantes Thema sein, um grundlegende Veränderungen zu erreichen. Denn „Gleichstellung ist immer noch eine Vision – keine Realität“ (Regiringskansliet 2017: 1/eigene Übersetzung).

Literatur:
Regeringskansliet (2017): Utrikesförvaltningens handlingsplan för feministisk utrikespolitik 2015–2018 med fokusområden för år 2016. Stockholm.