Kinder setzen sich aktiv mit gesellschaftlicher Vielfalt auseinander. Das zeigt ein Handlungsforschungsprojekt aus Magdeburg/Stendal.
„KiWin" – Mit Kindern in die Welt der Vielfalt hinaus. Inklusion fördern, Exklusion verhindern.
Wie (er)leben Kinder Vielfalt in der Kita? Das untersucht der Verein KinderStärken in Kooperation mit dem Kompetenzzentrum Frühe Bildung der Hochschule Magdeburg-Stendal im Rahmen des Handlungsforschungsprojektes „KiWin“.
In dem Projekt geht es darum, zu verstehen, wie Kinder Vielfalt wahrnehmen und in ihr Handeln integrieren. Aus den Forschungserkenntnissen und im Dialog mit der Praxis wird ein Handbuch entwickelt, das Anregungen formuliert, wie ein solidarisches Miteinander in der Kita gefördert werden kann. Dabei wird die Sicht von Kindern auf Vielfalt durch teilnehmende Beobachtungen erfasst und durch philosophische Gespräche mit ihnen. Das Projekt endet am 31.12.2019.“
Was haben Sie in Ihrem Forschungsprojekt herausgefunden? Wie erleben Kinder Vielfalt?
„KiWin“ ist ein Handlungsforschungsprojekt, dass vom BMFSFJ im Rahmen vom Bundesprogramm „Demokratie leben!“ gefördert wird und in enger Verknüpfung sowohl Fachwissen erarbeitet als auch vielfaltssensible Entwicklungsprozesse in Kindertageseinrichtungen anregt und begleitet. Eine unserer zentralsten Erkenntnisse ist, dass Kinder sich aktiv und differenziert mit gesellschaftlicher Vielfalt auseinandersetzen. Sowohl untereinander, in der Interaktion mit den Fachkräften und Beobachterinnen als auch in der Auseinandersetzung mit Regeln, Räumen und Materialien sind Kinder mit Fragen gesellschaftlicher Vielfalt konfrontiert, möchten ihre Umwelt verstehen, denken intensiv darüber nach und ziehen Schlussfolgerungen aus ihren Erlebnissen. Dies zeigt sich in über 900 Beobachtungen aus dem Alltag der beteiligten Kitas: Die Kinder thematisieren, was sie in ihrer Umwelt tagtäglich wahrnehmen, und passen sich an oder rebellieren gegen Ungleichheiten.
Das passiert unabhängig von ihrem biologischen Alter, zumindest bei den von uns beobachteten Drei- bis Siebenjährigen. Soziale Vielfalt ist im täglichen Geschehen der Kinder präsent und relevant, wobei sie Geschlecht und Alter expliziter und häufiger diskutieren als Religion, Sprache(n), ethnische Zugehörigkeiten, körperliches Aussehen oder Geld und Besitz. So kommt es bspw. recht häufig vor, dass Kinder bei der Aushandlung der Rollen und Regeln im Spiel diskutieren, dass nun auch zwei Mädchen heiraten dürfen oder ob und welche typischen Eigenschaften und Fähigkeiten Jungen und Mädchen haben. Oder Kinder wägen ab, ob die Beobachterinnen Kinder oder erwachsen sind und woran sie das unterscheiden können. Alter und Geschlecht werden dabei teils auch von den Kindern genutzt, um eigene Interessen durchzusetzen, etwa wenn gerade „nur die Mädchen“ oder „nur die Großen“ etwas tun möchten. Genauso gehört es auch zum Erfahrungsschatz der Kinder, dass manche von ihnen wegen offener Essengeldforderungen nicht am warmen Mittagessen teilnehmen können, dass einige Kinder von vielen Geschenken und Ausflügen erzählen und andere nicht, dass manche Familien zuhause und in der Kita unterschiedliche Sprachen sprechen, dass einige vom Besuch in der Moschee oder der Kirche berichten, dass manche nach dem Sommerurlaub braune Haut haben und andere auch im Winter usw.
Lassen sich Ihre Ergebnisse auch auf die pädagogische Arbeit in Krippen, Kitas und Horte übertragen?
Dem Projekt liegt eine klare Struktur zu Grunde. Veränderungen, die in der Praxis angestoßen werden, resultieren aus einem partizipativen Qualitätsentwicklungsprozess. In der ersten Projektphase haben wir als Projektmitarbeiter*innen über einen relativ langen Zeitraum hinweg die Kinder im Kitaalltag beobachtet, jedoch nicht aus einer Außenperspektive, sondern in der Rolle als Spielgefährt*innen. Wir waren aktiv in alle Abläufe involviert. Zentrale Frage war für uns, wann und wie im Alltagsgeschehen Dimensionen gesellschaftlicher Vielfalt für die Kinder relevant sind und inwieweit Kinder flexibel oder starr kategorisieren, stereotypisieren oder Vorurteile entwickeln. Die Nähe zu den Kindern ermöglichte es uns, in konkreten Situationen (philosophische) Rückfragen an die Kinder zu stellen, auch um für uns Sicherheit zu gewinnen, tatsächlich zu verstehen, was in einer konkreten Situation gerade für die Kinder bedeutsam ist und warum.
Die Ergebnisse aus den Beobachtungen wurden gruppenbezogen ausgewertet und mit den jeweiligen Erzieher*innen diskutiert. Daran anknüpfend legten die Fachkräfte fest, an welchen Themen und Schwerpunkten sie weiterarbeiten möchten, um die eigene Praxis im Sinne der Förderung eines solidarischen Miteinanders weiter zu optimieren. Auf diesem Weg stehen wir den Erzieher*innen mit theoretischen, aber auch methodisch-didaktischen Impulsen nach wie vor beratend zu Seite.
Somit lassen sich die Erkenntnisse bzw. vielmehr der Projektansatz problemfrei auf Kitas und Horte übertragen. Gezielte Beobachtungen und deren Dokumentation gehören zum Aufgabenprofil einer jeden Fachkraft. Die größere Herausforderung ist es, zu berücksichtigen, dass das Handeln der einzelnen Akteur*innen unter spezifischen Rahmenbedingungen stattfindet. Es geht also immer auch darum, diese Bedingungen und deren förderliche oder auch hinderliche Auswirkungen auf das Handeln einzelner Personen zu verstehen. Jede Kita- bzw. Hortgruppe wird bspw. von den dort agierenden Menschen – Kinder, Fachkräfte, Trägervertreter*innen, Familien etc. – mitgestaltet. Ebenso bedeutsam sind Lage, Konzeption und Größe der jeweiligen Einrichtungen. All dies sollte nach unserem Verständnis Berücksichtigung finden.
Die Übertragung auf den Krippenbereich wäre spannend, bspw. mit Blick darauf, wie Krippenkinder mit Regeln und Abläufen umgehen, was sie spielerisch inszenieren, was sie verbalisieren usw. Gegebenenfalls bedarf das Vorgehen mit dieser Altersgruppe Anpassungen, die konkret zu überlegen und auszuprobieren wären.
Sie haben Kinder in philosophischen Gesprächen in den Forschungsprozess eingebunden. Wie müssen wir uns das konkret vorstellen und was sind die Ergebnisse? Könnten Fachkräfte in Kitas Elemente oder Methoden Ihres Forschungsansatzes übernehmen?
Die philosophischen Gespräche sind für uns sehr wichtig gewesen, um uns rückversichern zu können, dass wir tatsächlich die Sicht der Kinder wahrnehmen und diese nicht durch eigene Interpretationen fehldeuten. Denn die Perspektiven von Kindern und Erwachsenen unterscheiden sich häufiger, als wir zunächst dachten. Deshalb war es uns von Anfang an wichtig, unsere Beobachtungen und Interpretationen nicht nur mit den Fachkräften, sondern auch mit den Kindern zu besprechen.
Dazu eigneten sich kurze Feldgespräche und offene Nachfragen, die wir beim gemeinsamen Spielen, Basteln, Lesen, Unterhalten etc. aus der Situation heraus an die Kinder gestellt haben. Wenn die Kinder bspw. bestimmte Begriffe wie „behindert“ oder „Männerwurst“ verwendet haben, haben wir nachgefragt, ob sie uns erklären können, was das ist bzw. bedeutet. Aussagen wurden als Fragen an die Kinder zurückgespiegelt, etwa „achso, in Afrika gibt es nichts zu essen und zu trinken?“. Diese Impulse haben die Kinder in den meisten Fällen zum Erzählen und Erklären angeregt. Grundlegend war für uns dabei, dass wir nicht bewertet haben, was gesagt bzw. gemacht wurde, sondern die Kinder in ihren Überlegungen ernstgenommen und in Streitsituationen gemeinsam nach möglichen Alternativen gesucht haben.
Fachkräfte können den Ansatz des Philosophierens in ihren gemeinsamen Alltag mit den Kindern aus unserer Sicht gut einbauen. Die Fragetechniken lassen sich sowohl im informellen Austausch mit einzelnen Kindern als auch in formellen, moderierten Gesprächsrunden einsetzen. Es ist allerdings eine zeitintensivere Art des Kommunizierens und braucht ggf. ein wenig Übung.
Sie haben Ergebnisse Ihres Projektes bei Fachtagungen in bundesweiten Zusammenhängen vorgestellt. Wie wurden sie diskutiert?
In unseren Workshops versuchen wir, die Vermittlung von Fachwissen zu sozialer Vielfalt mit der Interpretation von Beobachtungssequenzen, also Situationen aus dem Kitaalltag, zu verknüpfen. Das erlaubt es uns, gemeinsam mit den Teilnehmenden die Herausforderungen und Potenziale in der täglichen pädagogischen Arbeit zu reflektieren und gemeinsam Beispiele guter Praxis sowie Alternativen zu problematischen Handlungsweisen zu erarbeiten. Aktuell gewinnt dabei die Frage nach Klassenverhältnissen und insbesondere Armut zunehmend an Bedeutung. Hier sind Fachkräfte z.B. verunsichert, wie sie mit den eigenen Gefühlen umgehen können, wenn Kinder ganz selbstverständlich davon berichten, dass sie „bei der Tafel einkaufen“. Eine weitere Herausforderung besteht für die Praktiker*innen z.B. drin, Handlungsstrategien zu entwickeln, wenn Kinder wegen offener Essengeldforderungen vom Essenanbieter bei den Lieferungen der Mahlzeiten nicht mehr berücksichtig werden. Und das sind nur zwei Aspekte aus einer Fülle an Praxisbeispielen.
Vielfalt ist in Kitas generell sehr bedeutsam und Fachkräfte haben sich hier oft bereits auf den Weg gemacht, die eigene Praxis kritisch zu beleuchten und nach Handlungsalternativen zu suchen. Das Feld ist und bleibt jedoch sehr breit und bringt immer wieder neue Wissensbestände und Anforderungen hervor. Die Leistung und das Engagement, das die interessierten Fachkräfte hier aufbringen, kann gar nicht genug gewürdigt werden.
Um sich bewusst mit gesellschaftlicher Vielfalt und damit verbundenen Machtverhältnissen, die auch in Kitas zu Ungleichheit beitragen, auseinandersetzen zu können, müssen allerdings auch die entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen werden. Die Fachkräfte und Leitungen benötigen ausreichende Zeitressourcen, um z.B. an Weiterbildungen teilzunehmen, sich mit Literatur und Materialien auseinanderzusetzen, im Team unterschiedliche Standpunkte auszuloten und gemeinsame Ziele zu formulieren sowie die eigene Handlungspraxis kontinuierlich zu reflektieren.
Vielen Dank für das Interview!