30.01.2017

„Ohne ‚Männer in Kitas‘ hätte es länger gedauert, bis wir – wenn überhaupt – die Frauen benachteiligenden Strukturen der schulischen Ausbildung erkannt hätten.“

Angela Icken vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) im Interview über die Hintergründe und Ziele des Bundesmodellprogramms ‚Quereinstieg – Männer und Frauen in Kitas‘.

Foto: Herbert Jennerich.

Dr. Angela Icken arbeitet seit der Einrichtung der Abteilung Frauenpolitik 1986 im BMFSFJ, ist seit 1992 Referatsleiterin und leitet seit 2010 das Referat für Gleichstellungspolitik von Jungen und Männern. Die Gleichstellung von Frauen und Männern ist ihr Lebensthema. Ende Juli dieses Jahres geht Frau Icken in den vorzeitigen Ruhestand.

Bund und Länder messen der „Optimierung“ der vergüteten Ausbildung als Ergänzung zur nicht-vergüteten klassischen Ausbildung eine wichtige Bedeutung zu. Im Rahmen einer Bund-Länder-Konferenz haben sie sich Ende 2016 darauf geeinigt, dieses Thema im Qualitätsentwicklungsgesetz länderspezifisch zu berücksichtigen. Die Sachverständigenkommission des Gutachtens für den zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung empfiehlt 2017 die in den Bundesländern sehr uneinheitlichen Zulassungsvoraussetzungen zur Erzieher/innenausbildung anzugleichen und deren existenzsichernde Vergütung anzugehen.
Welche gleichstellungspolitischen Interessen verfolgt der Bund mit der Vereinheitlichung und qualitativen Entwicklung vergüteter Ausbildungsgänge für Erzieher/innen?

Bei Ihrer Frage laufen mehrere Handlungsstränge zusammen: Während der Laufzeit des ESF-Programms ‚Männer in Kitas’ wurde deutlich, dass buchstäblich mehrere tausend Männer in den Erzieherberuf wechseln wollten, dies aber nicht konnten, weil die Ausbildung zum Erzieher/zur Erzieherin nicht vergütet wird, es aber auch keine (geförderte) Umschulungen nach dem SGB III gab. Viele der damaligen Interessenten waren schon erwerbstätig, hatten Unterhaltsverpflichtungen oder mussten ihre eigene Existenz sichern: Kurz, sie waren auf ein Einkommen angewiesen.

Auf diese Weise sind wir auf ein Benachteiligungs-Phänomen gestoßen: Die Studierenden (Schüler und Schülerinnen) in schulischen Ausbildungen erhalten keine Ausbildungsvergütung, müssen u. U. Schulgeld zahlen, sind nicht sozialversichert – und sind zu 80 % weiblich. Diametral entgegengesetzt sieht die Situation in dualen Ausbildungsberufen aus. Wir sahen mit aller Deutlichkeit: Vor gut 100 Jahren haben vor allem bürgerliche Frauen aus dem ehrenamtlichen Engagement der Frauen Berufe geschaffen. Unverheiratete Frauen sollten nicht länger gezwungen sein, in den Familien ihrer verheirateten Geschwister mit zu leben, sondern in der Lage sein, ein eigenes Einkommen zu erwerben. Da sie zuvor das heiß ersehnte Recht auf Bildung erstritten hatten, lag es nahe, dass es sich um schulisch organisierte Ausbildungen handelte. Ich war ziemlich entsetzt zu erkennen, dass sich in 100 Jahren so wenig geändert hat.

Für uns ist nun der Beruf des Erziehers/der Erzieherin der erste Beruf, für den wir in Abstimmung mit den Ländern, im Rahmen unseres aktuellen ESF geförderten Modellprogramms „Quereinstieg – Männer und Frauen in Kitas“ Träger dabei unterstützen, aus einem schulischen Ausbildungsgang eine praxisintegrierte vergütete Ausbildung zu machen. Ich glaube, dass wir hier den Boden bereiten für ähnliche Reformen in anderen sozialen Berufen.

Ein weiteres Problem, welches noch gelöst werden muss, ist, funktionierende Förderbedingungen für Umschulungen zu schaffen. Trotz eines bestehenden oder drohenden Fachkräftemangels ist es nicht möglich, in schulischen Ausbildungsgängen Umschulungen zu fördern. Praxisintegrierte, vergütete Ausbildungen können ein Ausweg aus diesem Dilemma sein.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) ko-finanziert mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) das Modellprogramm „Quereinstieg – Männer und Frauen in Kitas“.
Welche Ziele will das BMFSFJ mit den Programmschwerpunkten „Gender“ und „Erwachsenengerechtigkeit“ im aktuellen ESF-Bundesmodellprogramm „Quereinstieg – Männer und Frauen in Kitas“ erreichen?

Die weitaus meisten Ausbildungsordnungen gehen davon aus, dass junge Leute die jeweilige Ausbildung als Erstausbildung absolvieren. Das entspricht aber nicht mehr der Realität: Ein einmal erlernter Beruf wird nicht grundsätzlich ein ganzes Leben lang ausgeübt. Dafür sprechen allein schon der Wandel in der Wirtschaft und daraus resultierend der Wandel des Arbeitsmarktes sowie gesellschaftliche und demografische Entwicklungen. Seit einigen Jahren beobachten wir zudem, dass viele Frauen und Männer im Erwachsenenalter ihren Beruf wechseln und eine neue Ausbildung absolvieren möchten. Meist haben sie die erste Ausbildung unter dem Einfluss von Eltern und Peers getroffen, möchten nun aber ihren mittlerweile erkannten u. U. abweichenden Potenzialen und Fähigkeiten folgen.

Nun können wir nicht davon ausgehen, dass einer erwachsenen Person die gleichen Lehrstoffe vermittelt werden müssen wie einer jungen Frau oder einem jungen Mann, die gerade die Schule abgeschlossen haben. Das passiert aber noch sehr häufig. Ich frage mich auch, ob nicht eine Ausbildung für eine erwachsene Person kürzer sein könnte, weil diese anders lernt. Lehr- und Lernmethoden sollten berücksichtigen, dass Erwachsene schon Vorerfahrung mitbringen. Hier brauchen wir eine bildungspolitische Diskussion und das ESF-Programm ‚Quereinstieg‘ soll uns hierzu Erkenntnisse liefern. Ähnlich ist es mit dem Thema Gender, das in Ausbildungen zumeist nicht berücksichtigt wird. Unbestritten ist dieses Thema im Erzieherberuf und anderen pädagogischen Berufen von besonderer Bedeutung: Es geht um Arbeit in gemischten Teams, das Vorleben moderner Geschlechterrollen und das Aufbrechen von Rollenstereotypen. So kann (Früh-)Erziehung zur Gleichstellung von Frauen und Männern und damit zu einer geschlechtergerechteren Gesellschaft der Zukunft beitragen.

Zum anderen sind auch hier Übertragungen auf andere Berufsbereiche denkbar im Hinblick auf eine geschlechtergerechte Arbeit in Altenheimen oder in der Physiotherapie. Wir müssen ganz einfach grundlegende Erkenntnisse sammeln.

Sie gehen Ende Juli in den Ruhestand. Wir würden gerne eine kleine Zeitreise mit Ihnen machen. Angenommen, wir befinden uns im Jahr 2025. Sie sitzen am Frühstückstisch und hören eine Radiosendung zum Thema „15 Jahre Gleichstellungspolitik von Jungen und Männern“.
Was wünschen Sie sich als Hauptthemen eines solches Beitrags und wie könnte der Grundtenor der Berichterstattung sein?

Bekanntermaßen bin ich ungeduldig, daher macht es nichts, dass Sie den Zeitraum so kurz gewählt haben, bis ich am Frühstückstisch in der Tageszeitung auf Seite 1. lese, dass es mittlerweile genauso viele Männer wie Frauen im Erzieher/innen-Beruf gibt. Dazu sollen die vergütete Ausbildung, die Einbeziehung in die Sozialversicherungspflicht, der Entfall des Schulgeldes und vor allem das Etablieren moderner vielstufiger Tarifstrukturen beigetragen haben.

Der Erzieherberuf ist zum Sinnbild für eine geschlechtergerechte Gesellschaft geworden, in der Frauen und Männer ihre Berufe nach eigenen Potenzialen und Fähigkeiten wählen und nicht unter dem Einfluss tradierter Rollenbilder. Frauen und Männer teilen sich die Aufgaben in der Familienarbeit wirklich egalitär auf, Berufsunterbrechungen oder Phasen der Teilzeitarbeit für Frauen und Männer sind ohne Nachteile denkbar.

In den vergangenen Jahren habe ich die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, den Blickwinkel des anderen Geschlechtes einzunehmen: Ohne ‚Männer in Kitas‘ hätte es länger gedauert, bis wir – wenn überhaupt – die Frauen benachteiligenden Strukturen in der schulischen Ausbildung erkannt hätten.

2010 wurden wir national und international sehr skeptisch betrachtet, als Deutschland Gleichstellungspolitik als eine Politik für Frauen und Männer definierte. Diese Skepsis hat sich zum großen Teil gelegt und in vielen Bereichen sind wir zu Motoren der Gleichstellungspolitik in internationalen Zusammenhängen geworden. Deutlich ist geworden: Es reicht nicht, die Rahmenbedingungen nur für ein Geschlecht zu ändern, es muss sich auch etwas für das andere ändern – im positiven Sinne für Frauen und Männer gleichermaßen, aber nicht unbedingt in gleicher Weise.