„Man muss Vielfalt leben, um ein Kind wie Joel aufnehmen zu können“
„Das einzige, was wir bei uns nicht haben sind zwei Väter“, sagt Anke Buggel, Leiterin der Kita Worpsweder Straße in Schwanewede, eine Gemeinde in der Nähe von Bremen. So beschreibt sie die Vielfalt der Eltern, die ihre Kinder in die Kindertagesstätte schicken. 105 Kinder aus 18 Nationen besuchen die Einrichtung mit Sternschnuppengruppe (Krippe), Sternen-, Sonnen-, Mond- und Regenbogengruppe. Es ist ein offenes Haus, nach dem Morgenkreis, mit dem die Kinder in ihren Gruppen in den Tag starten, können sie sich frei im Haus bewegen und die vielfältigen Angebote der verschiedenen Gruppen nutzen.
Betreut werden sie von zehn Erzieher*innen, davon zwei Männer und zwei mit Migrationshintergrund, zwei Zusatzkräften und einer Sprachförderkraft, die 19,5 Stunden in die Einrichtung kommt, die am Bundesprogramm „Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“ teilnimmt.
Allen Kindern gute Bildungschancen zu ermöglichen, ist Anke Buggel ein großes Anliegen. Die Inklusion von Kindern mit einer Behinderung ist für sie eine Selbstverständlichkeit und nichts, worüber man viel reden müsste. Es ist nicht die Regel, dass Kinder mit Behinderung ihre Kita besuchen. „Aber manchmal schleicht sich auch eins ein“, sagt sie. Vor einigen Jahren nahm die Gemeinde Laila auf, ein Mädchen aus dem Libanon. Bei ihrer Aufnahme wusste niemand, dass sie an der Schmetterlingskrankheit litt. Schon leichte Stöße oder Stürze führen bei diesen Kindern zu Blasen, Wunden und großen Schmerzen. „Die Regel, dass Laila nicht geschubst werden durfte, wurde von allen Kindern eingehalten“, erinnert sie sich. Für Ausflüge wurde der Bollerwagen gepolstert, sodass sie sich nicht stoßen konnte. „Die Aufnahme von Laila hat uns allen gezeigt, wie einfach es ist, ein Kind mit Behinderung in unseren Arbeitsalltag zu integrieren“, sagt Anke Buggel. Es war keine bewusste Entscheidung, die sie und ihre Mitarbeitenden getroffen hatten, sie wurden vor die Aufgabe gestellt und sind an ihr gewachsen.
Und dann kam im Oktober 2018 Joel, ein dreijähriger Junge mit einer spastischen Behinderung. Seine Pflegeeltern wünschten sich sehr, dass er in die Kita Worpsweder Straße geht, die direkt in ihrem Einzugsgebiet liegt. Die zwei Integrations-Kitas in kirchlicher Trägerschaft, die für die Aufnahme von Kindern mit Behinderung in der Gemeinde Schwanewede vorgesehen sind, waren für Pflegemutter Petra Hecker keine Option. „Hier in der Worpsweder Straße ist er mit den Kindern zusammen, mit denen er später auch die Schule besuchen soll,“ sagt sie, als sie ihn mittags um 12 Uhr abholt. „Ich möchte, dass für ihn alles so normal wie möglich ist.“ Sie lernte den Jungen in einem Pflegeheim kennen und nahm das Kind in ihrer Familie auf. Seit zwei Jahren lebt Joel bei den Heckers und hat sich entgegen der ärztlichen Diagnose hervorragend entwickelt. Er kann mittlerweile aufrecht sitzen und mit Gehilfe und Unterstützung der Erwachsenen gestützt laufen. Er spricht einzelne Wörter und kann verständlich machen, was er möchte. „Ich kenne die Kita hier sehr gut und ich war mir sicher, dass Joels Persönlichkeit gut gefördert und er sich hier wohl fühlen wird“, sagt sie.
Anke Buggel holte einen Moment Luft, als Petra Hecker sie darauf ansprach, Joel in die Kita Worpsweder Straße aufzunehmen. „Viele Gedanken schossen mir durch den Kopf, ich wusste, dass wird nicht einfach.“ Dass der Wunsch der Pflegemutter berechtigt war, daran zweifelte sie keinen Moment. „Für mich ist es selbstverständlich, dass wir jedes Kind mit seinen individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen willkommen heißen. Das wird von uns erwartet und das leben wir auch.“ Es war ihr klar, – die Erfahrungen hatte sie schon mit Laila gemacht –, dass die Rahmenbedingungen und Strukturen an Joel angepasst werden mussten. Was sie aber nicht dazu veranlasste, in der Kita einen Fahrstuhl einzubauen, damit Joel in den Bewegungsraum kommen kann, der in der ersten Etage liegt. Hier musste sich Joel den Rahmenbedingungen anpassen. „Kinder wachsen an ihren Herausforderungen“, sagt Anke Buggel. Joel kann mittlerweile an der Hand einer Begleitperson die Treppen steigen – und hat Freude daran. „Das Ziel, dass er selbstständig die Treppe hochgeht, scheint sehr realistisch“, sagt sie.
Joel ist ein lebendiger und aufmerksamer, mittlerweile vierjähriger Junge. Seine blauen Augen folgen den Kindern, wenn sie wild um ihn herumschwirren. Er ist in der Sonnengruppe, die von Thomas Reinery und Adriana Rose geleitet wird. Beide sind Joels Bezugserzieher*innen und haben ihn gerade in der ersten Zeit bei der Eingewöhnung unterstützt. Es ist 9.30 Uhr, ein normaler Freitag in der Gruppe. Einige Jungen und Mädchen bauen mit Thomas Reinery ein Spinnennetz, um später unter den Fäden durchklettern zu können. Sie weben die Fäden hoch und tief, befestigen die Enden an Schränken, Tischbeinen und Stühlen. Für Joel spinnen sie besonders hoch liegende Fäden. Joel verfolgt die Aktivität der Kinder, rutscht auf dem Po zu ihnen und schiebt sich unter den Fäden hindurch. „In der Regel läuft es fließend“, sagt Thomas Reinery. „Die Kinder sehen, wenn Joel etwas braucht.“ Manchmal muss er sie sogar bremsen, damit sie ihm nicht zu sehr helfen. „Probleme selber anzugehen und zu lösen stärken ihn in seinem Selbstvertrauen.“
Für ihn ist es keine Herausforderung, Inklusion zu leben, sondern tägliche Praxis. „Als Pädagogen haben wir die Aufgabe, Inklusion zu realisieren“, sagt er. „Sie ist ein Menschenrecht. Menschen mit einer Behinderung haben das Recht, gleichberechtigter Teil der Gesellschaft zu sein. Daran möchte ich mitarbeiten.“ Zurzeit macht er die Weiterbildung zur Heilpädagogischen Fachkraft. Mit dieser Weiterbildung erfüllt er sich einerseits einen Herzenswunsch, anderseits eine der Auflagen, die die Kita erfüllen musste, um Joel aufnehmen zu können.
Eine andere Auflage war, die Gruppengröße von 25 auf 20 Kinder zu reduzieren. Joel stehen zudem eine persönliche Assistentin und die Heilerziehungspflegerin Angélique Sobotta zur Seite. Angélique Sobotta ist zehn Stunden in der Woche im Haus. Mit ihr sitzt er im Frühstückraum, auf dem Tisch steht frisch aufgeschnittenes Obst, Kinder kommen und setzen sich zu ihnen. Joel pickt mit seiner Gabel Bananen und Äpfel auf. „Ei, Ei,“ ruft er, als ein Mädchen seine Brotbox öffnet und ein hart gekochtes Ei herausholt. „Joel hat, seitdem er hier ist, schon viele neue Wörter gelernt“, sagt Sobotta. Und könne sich sehr gut verständlich machen, wenn er etwas will. Zudem habe er die Struktur der Kita verstanden, wisse um feste Zeiten wie den Morgen- und den Singkreis, mit denen sein Vormittag startet und endet.
Im Hintergrund ist immer Nele Richter, seine persönlich Assistentin. Sie ist Gesundheits- und Krankenpflegerin bei der Balu Kinderintensivpflegedienst GmbH & Co. KG. 20 Stunden in der Woche verbringt sie mit ihm in der Kita, ohne Richter darf Joel nicht kommen. „Ich muss ihn immer gut im Auge haben“, sagt sie, denn seine epileptischen Anfälle sind nicht auf den ersten Blick erkennbar, und er kommt schwer wieder aus ihnen heraus. Griffbereit hat sie immer das Notfallset mit Medikamenten und Spritzen, um sofort handeln zu können, wenn Joel einen Anfall bekommt. „Wir haben im gesamten Haus Ablaufpläne aufgehangen, auf denen die Reihenfolge und Aufgaben bei einem Krampfanfall klar erkennbar sind“, sagt Anke Buggel.
Sind denn die Kinder nicht eifersüchtig, wenn Joel so viel Aufmerksamkeit bekommt? Die Frage drängt sich auf, wird aber sogleich durch das Verhalten der Kids beantwortet. Niemand zerrt an den Ärmeln von Angélique Sobotta und wirbt um ihre Aufmerksamkeit. Sie schauen lediglich interessiert zu, wenn Nele Richter ihm die Orthese, die seine Fußgelenke stabilisiert, richtet. „Das Umgehen mit einer Behinderung wird so für sie zum Alltag“, sagt sie.
Nun wird Joel unruhig, es zieht ihn auf die Schaukel. „Neben Musik ist Schaukeln sein größtes Hobby“, sagt Sobotta. Sie nimmt ihn an die Hand, gemeinsam erklimmen sie die Stufen zum Bewegungsraum, der im ersten Stock liegt. Dort hängt die Schaukel. Leider ist der Raum belegt. Die Enttäuschung ist groß, Joel weint, kein anderes Spielzeug kann ihn trösten. Der Junge weiß, was er will. Also rein in die Klamotten und ab nach draußen auf den Spielplatz. Die Schaukel mit Rückenlehne, die dort hängt, hat Anke Buggel extra für Joel angeschafft. „Auch andere Kinder können sie nutzen“, sagt sie und fährt fort: „Wenn die anderen Kinder einen Fußball brauchen, kümmere ich mich ja auch darum, dass sie ihn bekommen.“ Sie hätten hier das Umfeld einfach ein wenig an seine Bedürfnissen angepasst, ohne viel Aufwand. „Wir können nicht Schlagwörter wie Vielfalt nutzen und Stopp machen bei Menschen mit besonderen Bedürfnissen.“
Anke Buggel setzt so Einzelintegration in einer Regel-Kita um. Einfach war es nicht, ihren und den Wunsch der Pflegeeltern umzusetzen. Es kostete sie viel Überzeugungsarbeit und Meetings mit den Behörden, um Joel aufnehmen zu können. Aber der bürokratische Hürdenlauf soll hier nicht Thema sein. „Ich bin froh, dass der Träger, die Gemeinde Schwanewede, uns auf diesem Weg begleitet“, sagt sie.
Sie wusste von Anfang an, dass sie Kinder, Eltern und ihre Mitarbeiter*innen für diese neue Aufgabe mit ins Boot holen musste. Mit den Eltern diskutierte sie auf einem Elternabend, dass die Aufnahme eines Kindes mit einer Behinderung bevorstand. Pflegemutter Petra Hecker war ebenfalls da und berichtete über Joel. „Die Eltern haben sich ohne Ausnahme gefreut, denn in den zukünftigen Grundschulen sind auch Kinder mit Behinderung“, sagt Anke Buggel.
Den Kindern erzählten sie von dem neuen Kind, das kommen wird. „Die waren da schon total gespannt auf Joel.“ Besonders wichtig war es Anke Buggel, ihre Mitarbeitenden hinter sich zu wissen. „Alle müssen sagen: Ja, Joel kann kommen“, sagt sie. Immerhin sind durch seine Aufnahme in der Sonnengruppe fünf Kinder weniger zu betreuen und es ist mehr Personal im Einsatz. „Wenn das nicht kommuniziert wird, kann es zu Missmut bei den Kolleg*innen führen.“ Zudem hätten alle Mitarbeiter*innen durch die teiloffene Arbeit Kontakt zu allen Kindern. „Deshalb muss sich jede*r Einzelne mit dem Thema auseinander setzen.“ Ein stabiles Team sei Voraussetzung, damit Inklusion gelingen könne. „Man muss sich die Grundwerte gemeinsam erarbeitet haben, im Haus muss eine respektvolle und freundliche Haltung vorherrschen und eine Fehlerkultur.“ Zudem müssten sich alle über eigene Vorurteile bewusst sein.
Adriana Rose, Erzieherin der Sonnenkinder, weiß es zu schätzen, dass Joel aufgenommen wurde. „Dass er bei uns in der Gruppe ist, hat auch meinen eigenen Horizont erweitert“, sagt sie, die vorher noch nicht mit Kindern mit Behinderung gearbeitet hatte.
Mittlerweile ist es 12 Uhr. Joel hatte einen abwechslungsreichen Vormittag. Er hat geschaukelt, gefrühstückt, gesungen, sich in der Kuschelecke mit seinem Stoffesel ausgeruht, sich von Hassan durchkitzeln lassen und herzhaft dabei gelacht. Nun ist es Zeit für den gemeinsamen Singkreis, der im Bewegungsraum stattfindet. Joel steigt die Treppe hoch, langsam Stufe für Stufe. Er hat schon viel gelernt, seitdem er in der Kita ist. Sein Wortschatz ist auf über 60 Worte gewachsen, „Alle meine Entchen“ kennt er und kann an manchen Stellen mitsingen oder klatschen. Aber an diesem Freitag singen alle Geburtstagslieder, um die Kinder zu feiern, die ein Jahr älter geworden sind. Sie sitzen in der Mitte auf einem goldenen Teppich. Joel robbt zu ihnen, setzt sich neben sie. Niemand protestiert, obwohl er nicht Geburtstag feiert. Dann robbt er zu einer Erzieherin im Singkreis, sie nimmt ihn in den Arm. Während alle singen, hört er zu. Joel ist Teil dieser kleinen Gemeinschaft, in der alle Kinder mit ihrer Individualität und ihren besonderen Bedürfnissen ihren Platz gefunden haben.
„Man muss Vielfalt leben, um ein Kind wie Joel aufnehmen zu können“, sagt Anke Buggel abschließend. Mehr möchte sie auch nicht mehr dazu sagen, weil es „im Grunde genommen doch einfach so selbstverständlich ist“.