Stephan und die kleinen Füchse – Eine andere Qualität
Außerhalb von Lübeck, mitten im Industriegewerbegebiet, zwischen Wald und Feldern, liegt die Natur- und Hofkita Roggenhorst. Es ist elf Uhr morgens, der Himmel ist bedeckt, auf dem Spielplatz toben rund 35 Kinder im Sand. Beaufsichtigt werden sie von insgesamt sechs Erwachsenen, drei Erzieherinnen, einem jungen Mann im Bundesfreiwilligendienst, einem Heilerziehungspfleger und von Stephan Rathcke, Quereinsteiger im dritten Ausbildungsjahr.
Bei schönem Wetter draußen
Die anderen Erzieherinnen sind in den Gruppenräumen, spielen und malen mit den Kindern, die nicht draußen sein wollen. „Wir versuchen, so viel wie möglich an der frischen Luft zu sein“, erläutert Melanie Timpe, Erzieherin und stellvertretende Leiterin der Kita, den Anspruch, der Natur und Nachhaltigkeit im Fokus hat. Zum Spielen steht den Kindern neben Rutsche und Schaukel ein Areal wilder Natur zur Verfügung. Die Erzieher/innen erkunden mit ihnen das Gelände, die Kindern basteln aus Ästen und Blättern Schmuck, säen, wässern und gärtnern Blumen und Kräuter, malen im Sand. Dem Bilderbuch „Alle Geschichten vom kleinen Bären“ lauschen sie bei schönem Wetter draußen auf der Picknickdecke, Mittagessen gibt es bei Sonnenschein unter freiem Himmel. Die Kinder lernen hier, Natur zu erleben und zu begreifen.
„Wenn sie handwerken wollen, gehen sie eher zu Melanie“
Melanie Timpe trägt Zimmermannshosen und festes Schuhwerk, sie baut mit den Kindern Hütten, macht schon mal ein Lagerfeuer. Quereinsteiger Stephan Rathcke liebt es, mit den Kindern durch Feld und Wald zu stromern oder zu spielen, schräg beäugt von den Schafen, die auf der Nachbarwiese grasen. Einige Kinder spielen Fangen, andere buddeln im Sand, wieder andere balancieren über Holzstümpfe. Stephan Rathcke reicht ihnen die Hand, damit sie das Gleichgewicht besser halten können. „Stephan, Stephan“, tönt es. Ein Mädchen nimmt ihn an die Hand, ein anderes umklammert sein Bein. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Kinder gerne zu mir kommen, wenn sie das Bedürfnis nach Nähe haben“, sagt er. „Wenn sie handwerken wollen, gehen sie eher zu Melanie. Handwerk liegt mir nicht so.“ Mit diesem Statement macht er klar, dass es hier in der Kita keine stereotype klassische Rollenverteilung gibt.
Eine andere Qualität
Stephan Rathcke ist seit knapp einem Jahr in der Naturkita der KinderWege gGMbH in Lübeck. Drei altersgemischte, integrative Gruppen – Füchse, Eulen und Frösche – mit Kindern im Alter von ein bis sechs Jahren sind unter dem Dach der Kita. Alters- und geschlechtergemischt ist auch das insgesamt dreizehnköpfige Team, das sich um die Kinder kümmert. „Wir sind sehr unterschiedlich, von jeder und jedem können die Kinder etwas anderes lernen“, sagt Melanie Timpe, die die Diversität im Team sehr schätzt und gerne mit lebenserfahrenen Menschen zusammenzuarbeitet, so wie mit Stephan Rathcke, der in einem früheren Leben Speditionskaufmann war. „Es ist eine andere Qualität mit älteren Menschen zu arbeiten, Jüngere muss man viel mehr anleiten“, sagt sie. „Die Älteren hatten alle schon einmal einen Job, sehen die Arbeit und wissen worauf es ankommt.“
Kita gewechselt
Stephan Rathcke ist nun im dritten Jahr seiner Ausbildung. Bei seinem ersten Arbeitgeber hörte er nach eineinhalb Jahren auf, weil unter anderem die Arbeitszeiten nicht zu seiner Vorstellung einer familienfreundlichen Ausbildung passten. Er wandte sich an die Praxiskoordinatorin des Modellprojekts, Ulrike Krieger der KinderWege gGmBh, mit der Bitte um einen anderen Ausbildungsplatz. „Wir konnten ihm den Wunsch erfüllen“, sagt die gelernte Erzieherin, die ein Studium in Bildungswissenschaften aufsattelte und sich seit 2010 bei dem gemeinnützigen Jugendhilfeträger in der Projektarbeit engagiert. „Es kommt manchmal vor, dass Teilnehmende einen anderen Arbeitgeber wünschen“, sagt sie. Stephan Rathcke konnte unproblematisch von einem Kooperationspartner zu einem anderen wechseln.
Ausbildungsmodell in Lübeck verstetigen
69 Männer und Frauen nehmen derzeit in Schleswig-Holstein bei der Trägerin KinderWege gGmbH am ESF-Bundesodellprogramm „Quereinstieg – Männer und Frauen in Kitas“* teil. Zu KinderWege gehören zehn Kindertagesstätten mit integrativem Schwerpunkt, Familienzentren, Einrichtungen für Schulkinder an verschiedenen Schulstandorten sowie Angebote der Kinder- und Jugendhilfe und das Projekt KinderKüche. „Wir sind in das Programm gestartet mit dem Traum, das Ausbildungsmodell in Lübeck verstetigen zu können“, sagt Ulrike Krieger, die als Praxiskoordinatorin Ansprechpartnerin für alle Einrichtungen ist. Regelmäßig richtet sie Weiterbildungen für Praxisanleiter/innen aus. Mit 25 Teilnehmenden ist der Träger in den ersten Jahrgang gestartet, davon werden 20 in diesem Jahr die Prüfung ablegen. Es ist ein bunter Jahrgang: Akademiker/innen, Hotelfachleute und Bankkaufleute drücken noch einmal die Schulbank, der jüngste Teilnehmer war bei Ausbildungsbeginn 21 Jahre alt, die älteste Teilnehmerin 59 Jahre.
Keine Vorstellung von dem, was auf sie zukommt
In allen drei Jahrgängen sind zurzeit 40 Frauen und 29 Männer. „Insgesamt hatten wir elf Austritte, fünf davon im ersten Jahrgang“, sagt Krieger und begründet: „Viele hatten keine Vorstellung von dem, was auf sie zukommt.“ Nach der Arbeit zu Hause lernen, Fachreferate schreiben, sich auf Klausuren vorbereiten – und das mit Familie und Alltagsverpflichtungen. „Die Erkenntnis, das alles zu schwer ist, kommt bei einigen erst mit der Erfahrung.“
Vereinbarkeit von Ausbildung & Familie
Stephan Rathcke nickt, aus diesem Grunde habe er unter anderem seine Arbeitsstelle gewechselt, betont er noch einmal. Mit der 20-Stunden-Woche, die er jetzt in der Kita habe, fahre er gut. Um 15 Uhr Feierabend, die Tochter von der Kita abholen, mit ihr spielen, das sei jetzt wieder möglich. Erst am Abend, wenn alles ruhig ist, bereitet er sich auf Klausuren vor oder so wie jetzt auf seine Abschlussprüfungen. „Wir hatten Glück, dass sich die Schule auf uns eingestellt und uns als Erwachsene gesehen hat“, sagt er, die Lehrenden hätten den Quereinsteigenden fast keine Hausaufgaben mitgegeben. Nur erwachsenengerechteren Unterricht hätte er sich noch gewünscht und nicht die Eins-zu-eins-Umsetzung des Rahmenlehrplans aus der vollzeitschulischen Ausbildung.
E-Learning gewünscht
Er nennt ein Beispiel: „Regelmäßiger Kunst- oder Sportunterricht ist für unsere Altersgruppe nicht so wichtig, da hätte eine Einheit gereicht, um uns zu lehren, wie wir die Kinder methodisch und didaktisch anleiten können.“ Auch Gruppenarbeit findet er persönlich nicht erwachsenengerecht. „Wir haben im Job schon Teamarbeit gelernt.“ Zudem könnten Lernmethoden wie E-Learning das Leben der Quereinsteigenden, die auch Familie haben, erleichtern. „Da könnte ich zu Hause lernen und mir die Zeiten selber einteilen.“ Denn auch Einkaufen, Putzen und Kochen stehen auf seinem Stundenplan. „Das will und kann ich nicht alleine meiner Frau überlassen“, sagt er. „Sie geht jetzt mehr als früher arbeiten und hat noch einen Nebenjob angenommen, damit wir finanziell über die Runden kommen.“ Trotz der Ausbildungsvergütung. „Ich bin zwar froh, Geld zu verdienen, aber es ist zu wenig.“ Es werde Zeit, die Ausbildung abzuschließen, das Ersparte sei bald verbraucht. „Und mir geht die Power aus, Arbeit, Schule, Familie, Freizeit und Geldprobleme unter einen Hut zu bringen.“
Auch Wickeln gehört dazu
Dennoch findet er den Weg richtig, den er eingeschlagen hat. „Jeder Tag ist neu und individuell“, sagt er. Die tägliche Arbeit mit den Kindern liebe er, jeden Tag mit offenen Armen und einem Lachen empfangen zu werden, mache ihn glücklich. Dennoch hat sich ein kleiner Wermutstropfen eingeschlichen. Früher sei er ein wenig unbefangener mit Kindern umgegangen, erzählt er. „Da habe ich unverblümt gesagt, dass ich Kinder liebe.“ Das würde er heute vorsichtiger ausdrücken. Die Diskussionen um Generalverdacht, ein Thema in seiner schulischen Ausbildung, habe ihm ein wenig von seiner Spontanität genommen. In der Praxis habe er jedoch noch keine negativen Erfahrungen gemacht – weder mit den Erziehungsberechtigten, noch mit den Erzieher/innen. „Bei uns übernimmt er alle Aufgaben, die wir auch machen“, sagt Melanie Timpe. „Er hat von Anfang an auch Kinder gewickelt.“
Sensibilisiert für den „Generalverdacht“
Stephan Rathcke ist durch die Diskussionen für das Thema sensibilisiert, pflegt aber weiter einen lockeren Umgang mit den Kindern. „Ich gehe jedoch offen mit der Zuwendung um, die ich durch die Kids erfahre“, sagt er. So habe er sich beispielsweise bewusst ins Blickfeld der Väter und Mütter gesetzt, die ihre Kinder abholten. Denn lange sitzt Stephan Rathcke nie allein. Silvie kommt und setzt sich auf seinen Schoß, Tobias umarmt ihn von hinten, Anna klammert an seinem Bein. „So können die Eltern sehen, dass die Kinder zu mir kommen und ich nicht zu ihnen gehe.“
Diversität schafft ein größeres Lernspektrum
„Ich finde es wichtig, dass die Kinder Erfahrungen mit beiden Geschlechtern machen“, sagt Melanie Timpe. Denn von Männern und von Frauen könnten sie gleichermaßen lernen – Diversität schaffe ein größeres Lernspektrum. Während sie spricht, ist Mittagszeit. Die Kinder versammeln sich auf der Treppe. Es gibt Pfannkuchen, Stephan Rathcke verteilt das Essen, füllt Gläser mit Wasser nach, gibt Soße zu den Pfannkuchen. Ein positives Rollenbild für Jungen und Mädchen, ein Mann, der mitten im Leben steht, und Kinder nachsichtig umsorgt.
Intensive Gespräche & Praxisanleitung
„Er passt perfekt in unser Team. Das war von Anfang an so“, sagt Melanie Timpe, die nicht nur Kollegin sondern auch Stephan Rathckes Praxisanleiterin ist. Er habe keine Probleme gehabt, sich im Team einzufügen, erzählt sie. „Ich habe auch kein großes Aufheben darum gemacht, da kommt jetzt ein Exot, ein Quereinsteiger.“ Sie habe ihn einfach als Kollegen eingeführt. Mindestens einmal die Woche ziehen sich die Beiden zu einem intensiven Gespräch zurück, bei dem sie Probleme einzelner Kinder besprechen oder darüber reden, was ihr oder ihm im Arbeitsalltag aufgefallen ist. Spontane Gespräche ergeben ich bei den Teamsitzungen – oder auf dem Hof, wenn sie gemeinsam die Kinder beaufsichtigen. „Die Chemie zwischen uns stimmt“, sagt sie. Stephan könne trotz seines Alters gut Ratschläge der jüngeren Kolleginnen und Kollegen annehmen.
Ein zusätzliches „Bonbon“
Auch seine Abwesenheit während der Schulzeit sei kein Problem. „Er ist zwar zwei Tage in der Woche nicht da, aber das fällt in unserem Fall nicht so sehr ins Gewicht, weil wir ihn als Bonbon dazu bekommen haben“, sagt sie, die mit zwei weiteren Erzieherinnen die Gruppe mit 15 kleinen Füchsen betreut. Stephan Rathcke ist die vierte Kraft und eine willkommene Unterstützung mit genug Freiraum, um zu lernen und sich auszuprobieren. „Die Kita gewinnt durch ihn“, sagt Timpe. „Er bringt neue Ideen aus der Schule mit, die er hier gleich in die Praxis umsetzen kann.“ Aber auch sie persönlich profitiere. „Ich bin schon so lange im Berufsalltag, dass das, was er aus der Schule mitbringt, für mich eine Auffrischung meines Wissens ist.“ Zudem gebe es immer wieder neue Ansätze in der Erziehungsarbeit, die sie in der Schulzeit nicht gelernt habe. „Für mich ist die Zusammenarbeit mit ihm auch eine Art der Weiterbildung.“
Ich mache gerne Experimente
Mittlerweile ist es Zeit für die Knusperrunde. Die Kids kommen noch einmal zusammen, trinken gemeinsam und knabbern Kekse. Stephan Rathcke hat eine Mango ausgepackt. Sofort scharren sich die Kinder um ihn. Er nimmt ein Messer, schneidet die Mango in Stücke. Der Kern soll später eingepflanzt werden. Gemeinsam mit den Kindern will er ihn zur Keimung anregen. „Ich mache gerne Experimente“, sagt er.
Fortsetzung folgt?
Das ESF-Modellprogramm war und ist für alle Beteiligten ein Erfolg. Für Ulrike Krieger, weil Schleswig Holstein nach Möglichkeiten sucht, das Ausbildungsmodell zu verstetigen und bei einer Zusage ihr Wunsch in Erfüllung gehen würde, noch in diesem Jahr einen vierten Jahrgang einzuläuten. Für Stephan Rathcke, weil er sich mit der Ausbildung einen Herzenswunsch erfüllt hat und nach seiner Prüfung weiter als Erzieher in der Natur- und Hofkita Roggenhorst arbeiten wird. Der Träger hat ihn übernommen. Und für Melanie Timpe, weil sie einen Kollegen bekommt, der neue Impulse ins Team geben wird. „Weil ich finde, das Männer oft eine andere Sichtweise auf Situationen haben als Frauen.“ Und ein geschlechtergemischtes Team sei gut – für die Kolleginnen und für die Kinder.
* Im Rahmen des Bundesmodellprogramms „Quereinstieg – Männer und Frauen in Kitas“ fördert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in den Jahren 2015 bis 2020 bundesweit Projekte aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF), die für die besondere Zielgruppe der Berufswechslerinnen und Berufswechsler erwachsenengerechte und geschlechtersensible Ausbildungsmöglichkeiten zur/zum staatlich anerkannten Erzieherin/Erzieher schaffen oder weiterentwickeln. Im Programm werden die Fachschülerinnen und Fachschüler parallel zu ihrer Ausbildung in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis in einer Kita beschäftigt und erhalten eine angemessene Vergütung