29.05.2019

Armut hat viele Gesichter

In der Kita ist Armut nicht sofort erkennbar, auch nicht für Fachkräfte. Vielfalt in Kitas wahrzunehmen bedeutet auch, für soziale Lagen von Kindern sensibel zu sein und passgenaue Lösungen zu finden.

Foto: privat.

Hannegret Frohn war 45 Jahre lang Erzieherin, davon fast 30 Jahre lang Leiterin, zuletzt in einer DRK-Kita in NRW, die in einem Stadtteil liegt, wo Armut ein großes Thema ist. Viele Familien leben von Transfer-Geldern. Diese Kita hat sie mit ihren Mitarbeiter/innen zu einem Familienzentrum entwickelt und zu einer inklusiven Einrichtung. Mittlerweile ist sie im Ruhestand, jedoch immer noch aktiv. Sie sagt: „Armut ist immer mit Scham besetzt.“ Die Erzieher/innen ermuntert sie, den Kita-Alltag gleichberechtigt für alle zu gestalten.

Wir wollen über Kinderarmut sprechen. Wie zeigt sich Kinderarmut?

Kinderarmut hat viele Gesichter und zeigt sich unterschiedlich: Mal sind es leere Kühlschränke, Unterernährung, Adipositas, sie kann sich bspw. auch darin zeigen, dass Kinder keine der Jahreszeit entsprechende Kleidung tragen oder beispielsweise kulturelle Angebote nicht nutzen können. Andere kommen nicht zu Kita-Festen, oder die Eltern nehmen nicht an Elternangeboten teil.

In Deutschland steigt die Armut – darunter leiden vor allem Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Familien. Welche Auswirkungen könnte das auf ihre Zukunft haben?

Sie haben weniger Chancen auf eine gute Bildung. Denn für Bildung muss ich in einer Verfassung sein, dass ich Dinge aufnehmen kann. Wenn ich aber ständig Hunger habe, ist das eine Belastung. Wenn lebensgeschichtliche Belastungen da sind, können die Kinder nicht lernen. Selbst wenn Bildung und kulturelle Angebote umsonst wären, fehlt diesen Kindern die Gelassenheit und Fröhlichkeit, um auch wirklich lernen zu können. Denn Lebensfreude und Unbeschwertheit sind Grundvoraussetzungen, um gut lernen zu können. Das gilt auch für Erwachsene.

Wie zeigt sich Armut in der Kita?

In der Kita ist Armut nicht sofort erkennbar, auch nicht für uns Fachkräfte. Aber im Laufe der Zeit erkennt man sie, wenn Essensrechnungen nicht bezahlt werden, wenn Kleidung der Jahreszeit nicht angemessen ist, wenn die Pflegesachen nicht rechtzeitig gebracht werden oder Wickelkinder häufiger als andere Kinder wund sind. Armut versteckt sich oft erst einmal.

Worauf sollten Erzieher/innen achten?

Sie sollten darauf achten, wie die Kinder sich verhalten. Wir hatten zum Beispiel ein Kind, das immer sehr lange am Frühstückstisch gesessen hat. Wir haben uns gewundert, wieso, weil das Mädchen auch sehr dünn war. Was wir am Anfang nicht mitbekommen haben, war, dass sie sich immer etwas fertig gemacht hatte und es dann in ihre Eigentumsschublade gebracht hat. Die Sachen hat sie mit nach Hause genommen, zu ihrem Bruder und ihrer Mutter. Daheim war der Kühlschrank permanent leer. Ein anderes Kind wiederum hat oft einfach Spielsachen mitgenommen, weil es keine eigenen hatte. Ein weiteres hat immer sehr viel gegessen, weil es dachte, es könnte verhungern. Da muss man sehr sensibel sein und ganz genau hingucken. Armut kann sich so unterschiedlich zeigen, da gibt es kein Rezept.

Konnten Sie die Probleme lösen?

Ja, bei dem Kind, das immer sein Essen in der Schublade gehortet hat, haben wir einen Hausbesuch gemacht und mit der Mutter gesprochen. Wir haben ihr in dem Gespräch Essenspakete angeboten, denn von unserem frisch gekochten Essen in der Kita bleibt immer was übrig. Sie hat das Angebot gerne angenommen, ist dann auch regelmäßig gekommen, um ihre Tochter abzuholen und hat das Essenspaket mitgenommen. Wir haben dazu eine Zeit gewählt, wo nicht so viel Trubel war, sodass es für sie nicht beschämend war. Auch für das Kind war es positiv, dass wir das Problem offen gemacht hatten. Es musste sich nicht mehr verstecken und hat daraufhin große Entwicklungsschritte gemacht.

Was bedeutet Kinderarmut für den Kita-Alltag und die damit verbundenen Anforderungen an die Arbeit mit Kindern und Eltern?

Der Kindergartenalltag sollte so eingestellt sein, dass Teilhabe grundsätzlich möglich ist. Wir dürfen Eltern nicht beschämen, denn Armut ist immer mit Scham behaftet. Ein Beispiel: Es kommt ein Fotograf in die Kita und macht Fotos, die die Eltern später kaufen können. Eine Familie mit drei Kindern kann sich vielleicht diese Fotos einfach nicht leisten. So etwas sollte man nie anbieten. Dann sollte das Essen nicht von zu Hause mitgebracht werden müssen. Frühstück, Mittagessen und Snacks sollten grundsätzlich von der Kita gestellt werden. Ein anderes Thema sind Ausflüge. Es kann nicht sein, dass die nochmal separat Geld kosten.

Auch Elternangebote sollten nichts kosten. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wenn wir Angebote gemeinsam für Kinder und Eltern machen, in denen die Kinder zum Beispiel ihre Projekte, an denen sie gearbeitet haben, vorstellen, dass Eltern gerne kommen. Alle Eltern lieben ihre Kinder und wollen stolz auf sie sein. Bei solchen Anlässen zeigen die Kinder, was sie können. Es geht hier um positive Verstärkung. Dazu gehört auch, dass wir die Lebensleistung von Eltern aus benachteiligten Familien respektieren. Ich finde, es ist schon eine besondere Leistung mit so vielen Belastungen und so wenig Geld immer wieder zurecht zu kommen. Erzieher/innen sollten den Eltern mit einer hohen Wertschätzung begegnen.

Nehmen Kinder überhaupt wahr, wenn sie aus unterschiedlichen sozialen Lagen kommen?

Eigentlich nicht. In der Kita ist das noch kein Thema. Erzieher/innen sollten jedoch einige Dinge beachten. Ein Beispiel sind Spielzeugtage, an denen Kinder ihr Spielzeug mitbringen können. Hier können einige Kinder richtig auftrumpfen – und andere nicht. Man sollte sie so nicht veranstalten, um den Blick auf Ungleichheiten nicht zu fördern. Zudem könnte eine Kita sich auf gemeinsame Ausflüge so vorbereiten, dass immer ein oder zwei gepackte Rucksäcke in Reserve für die Kinder da sind, die keinen mitbringen. Damit sich niemand schämen muss.

Was könnten konkrete Maßnahmen im Kita-Alltag sein, die benachteiligten Kindern zugute kommen?

Ich nenne wieder ein Beispiel und zwar Geburtstagsfeiern. Bei uns war es früher so, dass Kinder zu ihrem Geburtstag immer ein besonderes Frühstück mitgebracht haben für alle Kinder. Die, die weniger Geld zur Verfügung haben, würden das auch gerne machen, können es aber nicht, während andere manchmal sehr viel auffahren. Eltern mit weniger Geld können nicht so viel für ein Frühstück ausgeben, was ihnen dann am Ende des Monats fehlt. Wir haben uns da ein neues Konzept ausgedacht. Jedes Kind darf zum Geburtstag nur maximal drei Sachen mitbringen – eine Lieblingsmarmelade, einen Saft, eine Schokolade etc. Die Kinder haben mit den Erzieher/innen dazu Karten gebastelt. Vor einem Geburtstag wählen sie gemeinsam mit ihren Eltern maximal drei Karten aus, diese Lebensmittel bringen sie mit. Den Rest des Frühstücks stellt die Kita. Wir wollen uns so verhalten, dass alle sich wohl fühlen.

Elterngespräche sind in diesem Zusammenhang wichtig, aber sicherlich auch sehr schwer. Welche Aspekte sollten Erzieher/innen in der Gesprächsführung berücksichtigen?

Sie sollten wissen, dass Armut immer mit Scham besetzt ist. Sie sollten den Respekt für die Lebensleistung der Eltern als grundsätzliche Haltung annehmen. Und die Eltern trotz ihrer schwierigen finanziellen, vielleicht auch schwierigen sozialen Lage als Experten/innen für ihre Kinder wahrnehmen. Die Eltern sollten zudem wissen, dass sie kommen können, wenn sie Unterstützung brauchen. Dazu ist Offenheit notwendig. Wir haben bei unseren regelmäßigen Elternfrühstücken oder im Elterncafé immer offen über das Thema Armut gesprochen und dort auch darauf aufmerksam gemacht, wo es Spendenaktionen gibt. Die Eltern konnten es gut annehmen, weil wir ihnen mit Respekt gegenübergetreten sind. Wir haben viel dafür zurückbekommen. Mütter und Väter haben sich auf Aushänge gemeldet, wenn was genäht, gekocht oder repariert werden musste. Es geht darum, die Menschen dort abzuholen, wo sie gut sind. Wir erreichen die Eltern am besten, wenn wir hingucken, welche Ressourcen sie haben.

Wie können Erzieher/innen mit der eigenen Betroffenheit über das Schicksal der Kinder umgehen?

Selbstfürsorge steht hier an erster Stelle. Zudem sind Teambesprechungen sehr wichtig, auf denen man gemeinsam nach Lösungen sucht. Wichtig ist es, dort zu vermitteln, dass man die Betroffenheit gut versteht, aber an der grundsätzlichen Situation nichts ändern, dennoch aber viel für die Menschen tun kann. Das hilft, die Betroffenheit in aktives Handeln umzuleiten. Aus der Traumapädagogik kommt das Konzept des guten Grundes, das hilft, die Menschen besser zu verstehen und zu respektieren. Diese Haltung hilft, niemanden vorschnell zu verurteilen. Denn jeder Mensch hat einen guten Grund, sich so zu verhalten, wie er sich verhält.

Was versteht man unter armutssensiblem Handeln?

Das Bewusstsein, dass es Armut gibt und dass bei allem, was ich plane, alle teilhaben können. Bei allem, was ich plane, muss ich immer im Hinterkopf haben, ob auch alle daran teilnehmen können. Wenn ich nur eine Zielgruppe treffe, dann mache ich was falsch. Dann kommt es mit der Vielfalt nicht hin.

Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern?

Es gibt zum Beispiel zu wenig Möglichkeiten der kulturellen Teilhabe. Als Kita-Leiterin brauche ich Sponsoren/innen, wenn ich etwa mit den Kindern ins Theater gehen möchte. Als Leiterin muss ich also Sponsoren/innen suchen, anstatt mit den Kindern zu arbeiten. Das Land will Bildung, aber es zahlt nicht. Wir brauchen in den Kitas einen höheren Haushalt. Dann können wir das tun, was unsere Aufgabe ist – den Kindern ihren Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe und gleichberechtigte Bildung zu ermöglichen.

Vielen Dank für das Interview!