„Der PayGap und der CareGap beginnen im Kinderzimmer“
Almut Schnerring ist Journalistin, Kommunikationstrainerin und Autorin. Seitdem sie gemeinsam mit Sascha Verlan das Buch ‚Die Rosa-Hellblau-Falle’ geschrieben hat, sind sie mit Vorträgen, Fortbildungen und Workshops unterwegs rund um den Themenbereich Rollenbilder und Gendermarketing, Geschlechterstereotype und geschlechtersensible Pädagogik und schreiben auch einen Blog dazu unter www.rosa-hellblau-falle.de
2018 – und immer noch hängen wir in der Rosa-Hellblau-Falle? Wie kann das sein? Haben die Mädchen nicht langsam mal die Schnauze voll von Rosa?
Oh ja, bestimmt haben viele Mädchen die Schnauze voll, dass alle Welt meint, sie müssten Rosa mögen. Nichts gegen die Farbe, im Gegenteil! Es haben nämlich auch viele Jungs die Schnauze voll, dass die ganze Werbewelt meint, Rosa sei für sie tabu, sie müssten sich an die dunklen Matschfarben halten. Warum sind Farben nicht für alle da?
Noch mehr nervt aber, dass Rosa immer mit niedlich und süß, mit schön sein, Haushalt und Gefallen verbunden ist.
Welchen wertvollen Beitrag können Kindertageseinrichtungen und Erzieher/innen-Fachschulen für eine heterogene vielfältige Gesellschaft leisten?
Ganz viel ist schon gewonnen, wenn Fachkräfte wissen, dass sie selbst in der Rosa-Hellblau-Falle stecken. Wenn sie sich bewusst machen, dass es dabei nicht um Schuldzuweisungen geht, sondern, dass unsere Gesellschaft voll ist von stereotypen Zuordnungen, wir sie alle verinnerlicht haben, weil wir ja damit aufgewachsen sind. Wer das annehmen kann, ist schon auf dem Weg zu einer geschlechtersensiblen Pädagogik und kann Entscheidungen hinterfragen und bewusster treffen.
Was sind hier die Herausforderungen?
Ich stolpere immer über Aussagen, in denen einer anderen Person bescheinigt wird „Sie behandelt alle Kinder gleich“. Oder extremer noch einer ganzen Einrichtung: „Dort werden Kinder unabhängig vom Geschlecht gleich behandelt“. Der erste Schritt beim Versuch, die Rosa-Hellblau-Falle zu umschiffen ist doch, zu erkennen, dass es ein „gleich Behandeln“ gar nicht gibt! Und auch kein Ziel sein sollte! Ich hoffe doch, dass nirgendwo Kinder gleich, sondern im Idealfall individuell behandelt werden und damit höchst unterschiedlich, da ja nie alle dieselbe Zuwendung brauchen.
Geschlechtersensible Erziehung heißt ja gerade auch, den Kindern Erfahrungsräume zu ermöglichen, die sie von sich aus nicht betreten, weil ihnen schon früh vermittelt wurde, dass zum Beispiel Puppen nichts für Jungen seien und damit auch der gesamte Care-Bereich, das sich Kümmern um Andere, auch um sich selbst und den eigenen Körper. Für Mädchen gilt Ähnliches für den Technikbereich und für das raumgreifende Bewegungsspiel. Wie wichtig das ist, alternative Angebote zu fördern, Zuschreibungen zu diskutieren, zeigt sich auch darin, dass ja für Vierjährige sogar Materialien, Instrumente oder Gefühle ein Geschlecht haben.
Mit welchen Rollenklischees sind Erzieher/innen immer wieder konfrontiert?
Ganz vorne dran das Klischee, dass Frauen besser in der Kinderbetreuung seien, dass ihr eigener Beruf weiblich konnotiert ist, es in Deutschland nur fünf Prozent männliche Erzieher gibt und die Mehrheit davon ausgeht, dass diese Art Arbeit Frauen ja irgendwie auch in die Wiege gelegt sei. Insofern machen sie es ja auch irgendwie freiwillig, und deshalb braucht auch ihre Ausbildung keine Aufwertung und die Bezahlung kann auch bleiben, wie sie ist – macht ja nichts, dass die Anforderungen an Erzieher/innen immer weiterwachsen. Überspitzt gesagt. Denn das ärgert mich sehr, dass die Arbeit mit Kindern derart gering geschätzt wird, dass Erzieher/innen im Großen und Ganzen damit allein gelassen werden, aber die große Welle der Empörung aufsteigt, wenn zum Beispiel eine Broschüre konzipiert wird, die Fachkräfte über gendersensible Pädagogik informiert. Dabei wissen die lautesten Kritiker/innen gar nicht, was damit überhaupt gemeint ist.
Aber ist in den vergangenen Jahren nicht schon viel passiert, dieses Klischee zu ändern? Aufwertung des Berufes, mehr Männer in Kitas, bessere Bezahlung?
Ja, das stimmt wohl, es hat sich schon viel getan. Doch die meisten Erzieherinnen, mit denen wir in unseren Fortbildungen ins Gespräch darüber kommen, sagen, sie hätten wirklich gerne einen männlichen Erzieher im Team, aber es gibt wohl schlicht zu wenige Bewerber. Die Auseinandersetzung mit dem Thema muss also viel früher ansetzen. Beim Labeln von Spielzeug, beim Begriff „Puppenecke“, in der ein pinker Teppich liegt, beim Verteilen von Aufklebern oder kleinen Geburtstagsgeschenken: Die Jungs bekommen ein Spielzeugauto, die Mädchen ein Püppchen. Das mag extrem und veraltet klingen, ist aber tatsächlich in mancher Einrichtung gang und gäbe. Wenn ein Junge ausgelacht wird, weil er sagt, dass er sich für den Erzieher-Beruf interessiert und am Boys'Day in eine Kita möchte, dann hat er meist schon zehn Jahre lang erfahren, dass CareArbeit was für Mädchen sei. Die wenigstens haben das Selbstbewusstsein, sich dem entgegenzustellen. Verständlicherweise.
Können Erzieher*innen adäquat auf vorgegebene Rollenbilder reagieren oder müsste noch mehr in Weiterbildungen investiert werden?
Das kommt natürlich sehr auf die einzelne Fachkraft an und wie in der jeweiligen Einrichtung die Bildungspläne der Länder umgesetzt werden. Darin steht zwar, dass die Auseinandersetzung mit Rollenbildern ein wesentlicher Bereich der alltäglichen Arbeit sein sollte. Was sich aber in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren wesentlich verändert hat, ist die Masse und Allgegenwart von klischeehaften Zuschreibungen in der Werbung, in Büchern und Filmen, im Design und der Adressierung von Spielsachen. Das sogenannte Gendermarketing hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass Kinder von früh auf eingeteilt werden in zwei und nur zwei Geschlechterschubladen und ganz genau gesagt bekommen, was es bedeutet, ein „richtiges“ Mädchen zu sein oder ein „echter“ Junge. Und die Kinder verinnerlichen das entsprechend. Das bedeutet, dass die Anforderungen und die Verantwortung der Erzieher*innen und Eltern in diesem Bereich extrem gestiegen sind.
Wie kann man denn der Macht der Spielzeugindustrie entkommen?
Gar nicht. Die Botschaften des Gendermarketing sind allgegenwärtig, und vor allem, wer ältere Kinder hat, die nun mal mit zum Einkaufen gehen, die die Werbeplakate an der Bushaltestelle lesen, die YouTube-Videos schauen, hat diese Botschaften auch beim Abendessen mit am Tisch sitzen. Da hilft nur, mit den Kindern im Gespräch zu bleiben, sie darin zu bestärken, an eigenen Wünschen festzuhalten, auch wenn die Werbung oder andere Eltern oder Freund*innen der Meinung sind, das sei aber „untypisch“.
Was empfehlen Sie den Menschen in der Praxis für ihre tägliche Arbeit mit Kindern und mit den Eltern?
Je stärker die Kinder beeinflusst werden in ihrer Vorstellung davon, wie ein richtiges Mädchen, ein echter Junge zu sein hat, desto wichtiger ist es, ihnen im geschützten Raum der Familie oder einer Kindertagesstätte die Möglichkeiten zu schaffen, sich außerhalb dieser engen Grenzen auszuprobieren, Untypisches zu wagen, ohne allerdings groß zum Thema zu machen, dass jetzt was Besonderes passiert. Was kompliziert klingen mag, ist im Alltag gar nicht so schwer, einfach dem Spiel von außen möglichst wenig Grenzen setzen und dann beobachten, wohin es sich entwickelt und aufgreifen, was interessant und spannend ist, vielleicht darüber reden und den Kindern bewusst machen, dass es gerade anders lief als sonst, warum, und wie sie das fanden.
Warum ist es so wichtig, den Kindern Rollenbilder jenseits des Rosa-Hellblau-Klischees zu zeigen?
Es ist natürlich einfacher, sich zurückzulehnen und sich zu sagen „So sind sie eben, Mädchen mögen nun mal Puppen“, es abzunicken, wenn andere die Welt in Rosa und Hellblau vorsortieren. Wer aber sieht, wie es einem Jungen geht, dem die Eltern den Wunsch nach einer Puppe nicht erfüllen, die ihm die rosa Haarspange verbieten, obwohl die Schwester ganz viele davon bekommt, dem fällt das Zurücklehnen schon schwerer. Uns wird gern von Kritiker*innen unterstellt, wir würden Kinder in ihrer Entwicklung beeinflussen. Aber gerade jene, die von uns fordern „Kinder Kinder sein zu lassen“, scheuen nicht davor zurück, Jungs den Ballettunterricht zu verbieten und Mädchen wie selbstverständlich dort anzumelden. Wahlfreiheit jedenfalls sieht anders aus!
Die Koordinationsstelle ‚Chance Quereinstieg/Männer in Kitas‘ ruft gemeinsam mit einem Bündnis aus Kitaträgern, Fachschulen und anderen Institutionen zum bundesweiten Aktionstag am 5. Juni 2019 auf. Das Motto ist ‚Klischeefreie Vielfalt in Kitas‘. Die „Rosa-Hellblau-Falle – Rollenklischees im (Familien-) Alltag und wie man ihnen entkommt“ nimmt am Aktionstag teil, ist Bündnispartnerin. Was ist Ihr Anliegen?
Für Erwachsene und Jugendliche gibt es viele Projekte und Initiativen, die sich bemühen, die Macht der Rollenbilder aufzubrechen, die sind auch wichtig und gut, allerdings sind die Möglichkeiten der Einflussnahme begrenzt, wenn wir die Kinder davor 12, 15 oder 20 Jahre den Einflüssen der Marketing- und Medienindustrie und ihren einschränkenden Botschaften überlassen. Wir beteiligen uns am Bündnis mit unserer Initiative ‚Equal Care Day’ (equalcareday.de) und mit der Rosa-Hellblau-Falle (rosa-hellblau-falle.de), weil uns wichtig ist, auf die Anfänge hinzuweisen, darauf, dass die Welt von Kindern ab Tag Eins von Erwachsenen vorsortiert wird. Die Mehrheit glaubt, Kinder hätten heute doch die freie Wahl, doch unbewusst, bieten wir ihnen nur die Hälfte der Welt. In unserer Arbeit ziehen wir deshalb die Verbindung vom Alltag im Kindergarten in die Berufswelt, erklären, was Spielzeug mit Interessen und Berufswahl zu tun haben und zeigen, dass der PayGap und der CareGap im Kinderzimmer beginnen.
Welche konkreten Ideen haben Sie für den Aktionstag?
Ich bin Sprecherzieherin und Hörfunkjournalistin und gebe schon seit Langem Workshops rund ums Vorlesen für Lesepat*innen, (Groß-)Eltern, Erzieher*innen. Anlässlich des Aktionstags möchte ich einen Vorlese-Workshop anbieten, in dem es um Geschlechterrollen in Kinderbüchern geht. In dem Positivbeispiele vorgestellt werden, aber auch Bücher, die Klischees reproduzieren. In dem Kriterien diskutiert werden, an denen man vorurteilsfreie Kinderbücher erkennt. Dafür suche ich Kooperationspartner*innen wie zum Beispiel Bibliotheken oder Buchhandlungen (am liebsten im Raum Köln-Bonn), die Interesse an einem gemeinsamen Angebot rund um den Aktionstag im Juni 2019 haben.
Danke für das Interview!