Alle sind gleich, alle sind verschieden, alle sind dabei.
Carolin Hoolachan vertritt einen klaren Standpunkt. Eine Kita oder eine Schule kann die beste Ausstattung haben: barrierefrei, Lernspiele aus Förderschulen, Toiletten für alle Geschlechter, Dolmetscher/innen in allen (Gebärden)Sprachen – das würde einiges vereinfachen aber dennoch nur helfen, wenn die Fachkräfte auch die Bereitschaft haben, über ihren eigenen Standpunkt nachzudenken.
Carolin Hoolachan ist Dozentin an der Fachschule für Sozialpädagogik Pro Inklusio in Berlin. Sie findet es spannend, auch als Schule inklusiv zu arbeiten.
Frau Hoolachan, Sie sind Dozentin an der Fachschule für Sozialpädagogik Pro Inklusio. Was unterrichten Sie?
Momentan unterrichte ich das Lernfeld drei „Lebenswelten und Diversität wahrnehmen und verstehen und Inklusion fördern“. Einfach gesagt, geht es um jegliche Facetten von Heterogenität. Es ist ein spannendes Lernfeld, das ich mit viel Leidenschaft unterrichte – denn hier muss es um sehr viel mehr als Wissensvermittlung gehen. Themen sind beispielsweise Inklusion, genderbewusste Erziehung und Bildung, vorurteilsbewusste Pädagogik und armutssensible Pädagogik. Hier reicht Wissensvermittlung nicht aus, denn zu allen Themen gilt es erst einmal zu sensibilisieren, Haltung zu entwickeln und dann Methodenkompetenz zu schulen, indem die Studierenden konkrete Ideen lernen, wie sie pädagogisch handeln können.
Wie ist Ihr beruflicher Werdegang?
Meine pädagogische Laufbahn startete wie die meiner Studierenden: Ich habe eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht. Anschließend habe ich zehn Jahre in der pädagogischen Praxis, primär im Kitabereich, später mit Jugendlichen mit Fluchthintergrund gearbeitet. In Berlin habe ich dann Erziehungswissenschaften und Psychologie studiert– stets mit dem Ziel, in die Lehre gehen zu wollen. Ich habe Vollzeit studiert, jedoch auch immer nebenher gearbeitet. In meiner Studienzeit habe ich auch meine beiden Kinder bekommen.
Ihr Arbeitsschwerpunkt ist Inklusion und Diversität. Wie sind Sie dazu gekommen?
Inklusion war bereits bei meiner Arbeit in Kitas ein wesentlicher, aber auch relativ natürlicher Bestandteil meines pädagogischen Handelns. Für mein Team und mich war klar, dass wir jedes Kind unserer Einrichtung so fördern, wie es dies individuell braucht. Es hört sich an wie eine Floskel, aber wenn man den Satz „das Kind als Individuum anzunehmen“ wirklich lebt, dann lässt sich nie ein Schema F anwenden. Dann geht man davon aus, dass jedes Kind einen individuellen Förderbedarf hat und wenn der Förderbedarf die eigenen Kompetenzen übersteigt, sich ggf. unterstützende Hilfen zu holen.
In Berlin habe ich mit Kindern und Jugendlichen mit Fluchthintergrund gearbeitet und mich parallel an der Uni fokussiert mit Heterogenität und sozialer Ungleichheit befasst. Während ich mich also an der Uni mit Ursachen von Ungleichheit befasste, spürte ich sie am nächsten Tag hautnah in der pädagogischen Praxis. Ich glaube dieser tägliche Wechsel von der Metaebene auf die tatsächliche Lebenswelt dieser Jugendlichen und ihrer Familien haben unter anderem dazu geführt, weiter dran bleiben – und etwas verändern zu wollen.
Wie definieren Sie die Begriffe Inklusion und Diversität?
Mit dem Begriff der Inklusion wird direkt ein Handlungsziel impliziert, sich auf einen individuellen Förderbedarf von Menschen mit Blick auf die Bedürfnisse und die Ressourcen jedes Einzelnen einzulassen. Inklusion bedeutet für mich, die natürliche Teilhabe von Menschen zu ermöglichen, die diese bisher nicht ohne Weiteres ermöglicht bekamen. Kurz gesagt: Alle sind gleich, alle sind verschieden, alle sind dabei.
Diversität meint Vielfalt. Hinter diesem Begriff verbirgt sich im Gegensatz zur Inklusion noch kein Handlungsziel. Ich würde den Satz allerdings erweitern zu: Vielfalt als Bereicherung für eine Gesellschaft. Die Dimensionen von Diversität umfassen Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, ethnische und kulturelle Zugehörigkeit, soziale Milieus, Religion und Behinderung. Für mich gehören die Begriffe zusammen: Ziel einer inklusiven Haltung ist es, Diversität als Bereicherung statt als Problem zu sehen.
Die Begriffe Integration und Inklusion werden oft synonym verwendet, aber es gibt einen Unterschied?
Ja, einen ganz entscheidenden: Während bei der Integration davon ausgegangen wird, dass einzelne Personen in ein bestehendes System integriert werden, ist die Idee von Inklusion genau andersherum: Es geht um die Bereitschaft, Strukturen so zu verändern, dass alle teilhaben können ohne dabei individuelle Unterschiede zu ignorieren.
Wie greifen Sie im Unterricht das Thema Inklusion auf?
Das Thema Inklusion ist ein fester Teil des Curriculums, das sich im Laufe der Ausbildung an unterschiedlichen Punkten wiederfindet. Es ist ein Querschnittsthema der Schule und wird nicht nur in meinem Lernfeld behandelt, sondern ploppt auch in anderen immer mal wieder thematisch passend auf. Im Lernfeld drei ist es beispielsweise im ersten Semester sehr grundlegendes Basiswissen wie rechtliche Verankerung zur Inklusion, wichtige Instrumente wie den Index für Inklusion, der Behinderungsbegriff etc. Im zweiten Semester behandeln wir verschiedene Störungsbilder. Im dritten Semester wird der Schwerpunkt handlungsorientierter – hier geht es beispielsweise um Interventionsstile und wissenschaftliche Studien zum Thema Inklusion, im vierten Semester setzen sich die Studierenden dann mit individueller Förderplanung auseinander, welche sie dann in einem Entwicklungsbericht formulieren.
Wie müssten die Rahmenbedingungen sein, damit zukünftige Erzieher/innen Kompetenzen, um inklusive Prozesse organisieren und umsetzen zu können, in der theoretischen und praktischen Ausbildung erwerben?
Ich denke alle Kindertageseinrichtungen und Schulen sollten bessere personelle und räumliche Rahmenbedingungen haben, die sie für inklusive Bildung brauchen. Der amerikanische Psychologe Julian Rappaport sagte im Zusammenhang mit Inklusion: „Rechte ohne Ressourcen zu besitzen, ist ein schlechter Scherz“. Trotzdem können wir nicht erst auf bessere Ressourcen hoffen, bevor wir mit inklusiver Pädagogik starten.
In erster Linie ist es keine Ressourcenfrage, zunächst ist es eine Kopffrage: Können wir ertragen, nicht in Parallelwelten zu leben in der jeder möglichst homogen zusammenlebt? Können wir Unterschiede aushalten? Und wollen wir Vielfalt ermöglichen und dabei immer wieder daran erinnert werden, dass wir noch mehr übereinander wissen müssen, voneinander lernen müssen, noch mehr brauchen, um Inklusion gut umsetzen zu können?
In erster Linie steht und fällt gute Pädagogik mit den Menschen, die sie umsetzen. Eine Kita oder eine Schule kann die beste Ausstattung haben: barrierefrei, Snoezelräume, Lernspiele aus Förderschulen, Toiletten für alle Geschlechter, Dolmetscher/innen in allen (Gebärden)Sprachen – das würde einiges vereinfachen aber dennoch nichts helfen, wenn die Fachkräfte nicht die Bereitschaft haben, über ihren eigenen Standpunkt nachzudenken.
Wie verankern Sie für sich persönlich das Prinzip der Inklusion in der Ausbildung von Erzieher/innen?
Natürlich gilt es auch, die eigenen Vorurteile immer wieder zu reflektieren, denn davon sind wir alle nicht frei. Wir Dozierenden haben beispielsweise einmal monatlich Supervision um auch Themen wie diese zu bearbeiten. Aufgrund der unterschiedlichen Bildungsbiografien ist Binnendifferenzierung natürlich ein Thema, das ich als Dozentin definitiv noch verbessern kann.
Welche Fragen zum Thema Inklusion bringen die Fachschüler/innen aus der Praxis mit?
Ich spüre ein großes Interesse, aber anfangs auch eine große Unsicherheit auf Seiten der Studierenden, wenn das Wort Inklusion fällt. Wo fange ich an? Wie kann ich das bewerkstelligen mit den teilweise widrigen Bedingungen? Hier halte ich es für wichtig, sich dem Thema ressourcenorientiert zu nähern und nachzuschauen, in welchen Bereichen bereits inklusiv gearbeitet wird, und was die Studierenden an Kompetenzen und unterstützenden Hilfen brauchen, um Inklusion weiterhin zu verbessern.
Wir sind am Anfang eines Prozesses, und da darf man sich eingestehen, klein anzufangen. Das Anfangen selbst ist einer der wichtigsten Schritte. Oft nimmt dieser Gedanke bereits die erste Angst, Fehler machen zu können. Je mehr die Fachkompetenz der Studierenden über vielfältige Lebensweisen und individuelle Entwicklungsbesonderheiten und Fördermöglichkeiten wächst, desto sicherer können sie pädagogisch handeln. Die Studierenden kennen das Ziel, individuelle Lern- und Entwicklungsprozesse von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ressourcenorientiert begleiten und damit Inklusion aktiv fördern zu können. Es ist an uns als Schule, ihnen das entsprechende Handwerkszeug für den Start mitzugeben.
Wie inklusiv ist Ihre Fachschule? Lernen hier beispielsweise auch angehende Erzieher/innen mit einer Behinderung?
An unserer Fachschule gibt es mehrere Studierende mit einer Behinderung, auch wenn diese manchmal nicht so stark auffällt, dazu gehören beispielsweise auch eine überstandene Krebserkrankung oder eine chronische Migräne
Wie bereiten Sie betroffene Studierende auf den Alltag in der Kita vor?
Ich kann die Studierenden nicht auf den Alltag in der Kita vorbereiten, weil es den einen Alltag in der Kita nicht gibt. Ich kann ihnen aber Ideen und Handlungskompetenzen vermitteln, wie sie sich immer wieder flexibel auf unterschiedliche Situationen einlassen können, ohne dabei zu vergessen, für sich selbst zu sorgen. Und wenn dann eine Studierende eine chronische Migräne oder eine überstandene Krebserkrankung hat, gilt es gemeinsam zu schauen, ob sie den Kitaalltag damit bewältigen kann und wenn nicht, was sie dafür braucht um ihn zu bewältigen.
Wenn die Lösung dann an Strukturen liegt, die veränderbar sind, z.B. mehr Urlaubstage oder kürzere Arbeitszeiten, dann wäre es inklusives Handeln, von diesen nötigen Veränderungen Gebrauch zu machen. Hieße es aber, dass die oder der Studierende aufgrund eines angeschlagenen Immunsystems den Körperkontakt zu Kindern vermeiden oder aufgrund der Migräne der Lärmpegel auf geringster Stufe zu halten sein muss, dann sollte man auch an diesem Punkt so realistisch sein und andere Arbeitsfelder in Betracht ziehen. Allerdings ist die Schule nicht für strukturelle Veränderungen in den Praxiseinrichtungen befähigt, hier sind die Praxiseinrichtungen gefragt, mit denen sich die Studierenden auseinandersetzen müssen, an dieser Stelle können wir keine Unterstützung anbieten.
Jetzt haben wir hauptsächlich über Inklusion von Menschen mit Behinderung gesprochen, aber Diversität umfasst ja auch Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, ethnische und kulturelle Zugehörigkeit, soziale Milieus und Religion. Wie greifen Sie das „ganze Paket“ im Unterricht auf? Ziel sollte es ja sein, die Studierenden zu vorurteilskritischen Erzieher/innen auszubilden?
Ja unbedingt. Eine vorurteilsbewusste Haltung zu entwickeln ist ein wahrscheinlich nie abgeschlossener Prozess, den wir zumindest in der Ausbildung ins Rollen bringen können, indem wir die Studierenden – und uns selbst – immer wieder in Reflexion und Biografiearbeit schicken und diese versuchen, engmaschig zu begleiten. Dies ist jedoch mit großen Klassen und einem umfangreichen Curriculum auch gleichzeitig die große Herausforderung. Wir sind Dozierende und keine Therapeuten, auch wir haben Vorurteile und unterschiedliche Erfahrungen und Hintergründe. Vorurteilsbewusstsein kann also, wie Inklusion auch, als ein gemeinsamer Prozess, als ein Ziel verstanden werden, nicht als ein Zustand, den man einmalig erreicht und dann abschließt.
Das „ganze Paket“ ist eigentlich eine Wundertüte an Vielfalt. Dabei möchte ich nicht ständig auf Unterschiede abzielen, sondern auch die sehr vielen Gemeinsamkeiten betonen. Ich finde es spannend, auch als Schule inklusiv zu arbeiten. Wie bereite ich beispielsweise meinen Unterricht für gehörlose Studierende vor? Wie kann ich Menschen berücksichtigen, die Deutsch als Fremdsprache lernen? Wie gehe ich bei all den gemeinsamen Werten der Schulen mit Meinungspluralität in Unterricht um? Das ist das Schöne am Lehren: Man lernt immer, immer, immer.
Was müsste sich Ihrer Meinung nach am Bildungssystem ändern, damit Inklusion wirklich gleichberechtigtes Miteinander bedeutet – in der frühkindlichen Erziehung ebenso wie in Schule?
Es braucht einen Paradigmenwechsel, ein Umdenken und eine Bereitschaft zur Veränderung. Gleichzeitig braucht es auch Geduld und Einrichtungen, an denen man sich orientieren kann. Wir müssen uns eingestehen, dass wir am Anfang stehen, der Integrationsprozess hat dreißig Jahre gedauert und nun haben wir glücklicherweise neue Herausforderungen im Prozess der Inklusion. Ganz grundlegend müsste sich die Attraktivität des Erzieher/innen- und Lehrer/innenberufs verändern, damit der Job attraktiv wird. Heißt konkret: deutlich bessere Bezahlung für Erzieher/innen, grundsätzlich mehr Personal und eine qualitativ hochwertige Ausbildung.