„Man sollte immer beim Kind bleiben und gucken, was möchte das Kind.“
Melanie Seifert ist Projektkoordinatorin bei der KinderWege gGmbH in Lübeck. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Ulrike Krieger und der Koordinationsstelle „Chance Quereinstieg/Männer in Kitas“ hat sie die Fachtagung „Gender“ mit dem Schwerpunkt Generalverdacht an der Fachschule Berufsbildungszentrum (BBZ) Mölln durchgeführt, an der ca. 50 Quereinsteigende, weitere Fachschüler/innen und Fachkräfte teilgenommen haben.
Frau Seifert, würden Sie sich und Ihre Arbeit bitte kurz vorstellen?
Ich bin Projektkoordinatorin bei der KinderWege gGmbH in Lübeck und in dieser Funktion in der Regel zweimal im Monat je zwei Tage in der Fachschule (BBZ Mölln) vor Ort und gehe auch in die Klassen. Ich bin Ansprechpartnerin für die Quereinsteigenden, für die Schule und Fachkräfte bei allen Fragen rund um den Quereinstieg. Die Idee ist, einen stärkeren Praxisbezug herzustellen, weil ich ja auch aus der Praxis komme und viel Erfahrung mitbringe. Meine Kollegin für die Koordination Kita, Ulrike Krieger, ist in engerem Kontakt mit den Anleitungskräften der Einrichtung, besucht sie vor Ort, um sich ein Bild zu machen, wie es den Quereinsteigenden in den Einrichtungen geht. Wir tauschen uns regelmäßig aus. Lernort Schule und Lernort Kita sind in unserem Projekt sehr gut vernetzt.
Sie haben die Fachtagung zum Thema Generalverdacht organisiert. Was gab den Anstoß dafür?
Das erwuchs zum einen daraus, dass der Wunsch zum Thema Generalverdacht aus der Schule bzw. aus den Einrichtungen kam, von den Quereinsteigenden aus dem 2. Ausbildungsjahr. Zum anderen hatten wir das sowieso angedacht. Unter 25 Teilnehmenden der jetzigen Mittelstufe sind 17 Männer, bei ihnen war das Thema von großem Interesse, ohne dass es einen konkreten Vorfall gab. Wir als Projektkoordinatorinnen führen regelmäßig Anleitungstreffen durch, wo wir die Anleitungskräfte der Quereinsteigenden zu uns einladen, um uns auszutauschen. Zu diesen Treffen kommen auch die Lehrkräfte aus der Fachschule hinzu. Auch hier gab es Bedarf, über das Thema Generalverdacht oder sexualpädagogische Schutzkonzepte zu reden. Da wurde uns klar, dass wir das Thema aufgreifen und eine Fachtagung zum Thema Gender mit dem Schwerpunkt Generalverdacht abhalten wollen. Wir haben das in Zusammenarbeit mit der Koordinationsstelle „Chance Quereinstieg/Männer in Kitas“ organisiert.
Haben Sie neue Erkenntnisse gewonnen?
Uns wurde nochmal klar, dass es im Alltag in der Arbeit mit den Kindern, in der Art wie man sie anspricht und wahrnimmt und welche Angebote man ihnen macht, im Grunde einer steten Reflexion bedarf. Mit Fragen der Rollenstereotype müssen wir uns immer wieder auseinandersetzen und miteinander ins Gespräch kommen. Und selbst wir, die wir uns schon jahrelang mit dem Thema Gender beschäftigen, tappen immer noch in vermeintliche Genderfallen. Die Erkenntnis ist, man ist nie fertig, man ist immer auf dem Weg und muss immer wieder reflektieren und hinterfragen, was man da wirklich wahrgenommen hat, was man erwartet und wie man die Kinder anspricht. Die Fachtheorie mit der Alltagspraxis in Einklang zu bringen, ist eine Herausforderung, nicht nur für die Quereinsteiger/innen in unserem Projekt. Auch wir Fachkräfte müssen uns immer wieder hinterfragen und weiterbilden.
Ist der Generalverdacht gegenüber männlichen Erziehern ein Thema im Curriculum der Fachschule?
Im Curriculum ist es nicht explizit verankert. Wir stellen uns auch die Frage, ob das wirklich notwendig ist. In Schleswig Holstein gibt es die Bildungsleitlinien, eine Querschnittdimension davon ist Gender, wo es um Jungen und Mädchen als zu Betreuende geht, aber auch um Männer und Frauen, die eben die Fachkräfte sind. Wir finden es wichtiger, das Thema Rollenvorstellung in den Vordergrund zu rücken als das Thema Generalverdacht. Worüber man wirklich sprechen sollte, ist über Sexualpädagogik und ob es ein sexualpädagogisches Schutzkonzept in der Einrichtung gibt, um Männer und Frauen zu schützen. Solch ein Schutzkonzept wird in Schule, Einrichtung und im Team besprochen, hier geht es darum, dass es alle schützt und nicht nur auf die Männer geguckt wird.
Was beinhaltet ein sexualpädagogisches Schutzkonzept?
Der Umgang mit kindlicher Sexualität sollte im Team besprochen werden und im sexualpädagogischen Schutzkonzept Platz finden. Eine Auseinandersetzung im Team über Unterschiede zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität sollte vorausgehen, wichtige Punkte könnten im Schutzkonzept erwähnt werden. Weiter gehört dazu: Dürfen die Kinder ihre Bedürfnisse nennen? Dürfen sie sagen, wer ihnen nahe kommen kann, von wem sie sich wickeln lassen wollen oder wer ihnen beim Toilettengang hilft, wer sie umarmt oder von wem sie getröstet werden wollen?
Zudem geht es beispielsweise darum, dass man Worte und Formulierungen für Gespräche mit Kindern zum Thema Sexualität hat, die auch Kinder kennen, z. B. für Geschlechtsorgane, warum und wie man mit Kindern über Sexualität spricht. Es ist darin verankert, wie man sich im Team darüber verständigt, wie weit gehen wir, wie detailliert sprechen wir über Sexualität, welche Materialien haben wir dazu da, wie gehen wir mit den Eltern um, gibt es Räume, wo Kinder ungestört sein können bei geschlossener Tür, sind Doktorspiele erlaubt oder inwieweit dürfen sie ihre eigenen Körper erforschen?
Die Wickelsituation sollte geklärt sein. Uns ist wichtig, dass Männer und Frauen die Kinder wickeln. Wenn die Tür beim Wickeln immer geöffnet ist, wie geht es den Kindern damit? Dürfen die Kinder bei Fachkräften auf dem Schoß sitzen, dürfen sie schmusen? Wo sind Grenzen? Das sind alles wichtige Themen, über die man sich im Team austauschen sollte, die Ergebnisse sollten verschriftlicht werden.
Es gilt auch festzulegen, wie man sich, sollte es einen Verdacht auf sexuelle Gewalt geben, verhält. Zum Beispiel wenn wir beobachten, dass ein Kind sich anders als sonst verhält, komische Dinge erzählt oder vielleicht merkwürdige Bilder malt. Hat man das Gefühl, da ist was nicht in Ordnung, sollte man sich fachkompetente Hilfe holen und nicht gleich an sexuelle Gewalt denken – aber den Gedanken auch nicht komplett ausblenden.
Wichtig ist auch, an dieser Stelle miteinander – im Team – im Gespräch zu sein und reflektieren, was man wahrgenommen hat.
In einem Schutzkonzept steckt sehr viel drin von dem, was alltäglich in einer Kita passiert. Darüber muss man sich Gedanken machen und das austauschen, in angemessener Weise auch mit den Eltern.
An welchen Stellen können Kita und Fachschule beim Thema Generalverdacht zusammenarbeiten?
Was wir sinnvoll finden und auch schon getan haben ist, dass wir Kooperationstreffen, Fachtagungen und Austauschtreffen organisieren, an denen die Schule fachlichen Input gibt und die Kitas erzählen, wie das Thema bei ihnen gehandhabt wird. So ein Schutzkonzept sollte ja jede Einrichtung und jedes Team selbst entwickeln, und es nicht über alle drüber stülpen.
Was können Männer tun, wenn sie in eine für sie schwierige Situation kommen?
Auch darüber sollte geredet werden. Gibt es Schutzräume für Männer, verhalten sich Männer mitunter anders oder dürfen die sich auch zurückziehen und austauschen? Bei dem Fachtag gab es ein praktisches Beispiel: Es ging um eine Einrichtung für Schulkinder, die Kinder waren beim Turnen und haben Rolle vorwärts gemacht. Bei einigen Mädchen, die Röcke trugen, waren dabei die Unterhosen zu sehen. Da hat sich der männliche Kollege sehr unwohl gefühlt und natürlich gibt es dann die Frage wie man mit solch einem Unwohlsein umgeht, wo findet das den Raum? Auch das gehört unserer Meinung nach in so ein Schutzkonzept, dass sich Männer und Frauen mit solchen Themen auseinandersetzen können. Es gab bei uns im Rahmen des Programms „Mehr Männer in Kitas“ bis 2013 auch Arbeitskreise für Männer, wo es Raum gab, so etwas zu thematisieren. Würde es von den Quereinsteigern gewünscht werden, würden wir das wieder anbieten.
Wie können Kita-Leitungen eine vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre schaffen, in der sich Männer gut aufgehoben fühlen?
Offen sein, relativ schnell das Thema Sexualpädagogik ansprechen oder das sexualpädagogische Schutzkonzept vorstellen – bei Neueinstellungen oder auch mit Eltern, die ihre Kinder anmelden. Sie sollten deutlich machen, dass ihnen das Thema bewusst ist und im Team klar machen, dass hier jeder hinter jedem steht. Wenn also ein Elternteil sagt, mein Kind darf nicht von einem Mann gewickelt werden, sollte sofort ein Gespräch verabredet werden, um nachzuhören, was der Grund ist. Eltern sollte klargemacht werden: Bei uns wickeln Männer wie Frauen, das sind Fachkräfte. Die Erzieher/innen sollten den Eltern ebenfalls erklären, dass sexuelle Gewalt da Raum findet, wo nicht darüber gesprochen wird, wo man nicht offen mit dem Thema umgeht, und ihnen erklären, dass in ihrer Einrichtung Raum dafür ist und sich das Team mit dem Thema auseinandersetzt. Die Männer sollen wissen, dass sie nicht alleine sind.
Auch, wenn diese Meinung nicht sehr weit verbreitet ist: Mir ist wichtig zu sagen, dass sexuelle Gewalt auch von Frauen ausgehen kann. Das wird in der Öffentlichkeit kaum so wahrgenommen. Nicht jede Frau wickelt ein Kind angemessen und im Interesse des Kindes. Auch da kann was passieren, was man erst einmal nicht so schnell als sexuelle Gewalt wahrnimmt, nur weil sie von einer Frau kommt.
Ich glaube die Leitung ist gefordert, Eltern dafür sensibel zu machen, dass es nicht darum geht, ob ein Mann oder eine Frau sich um ihre Kinder kümmert, sondern darum, wie es den Kindern damit geht. Kuscheln Frauen beispielsweise mit Kindern, fällt das nicht weiter negativ auf, machen es Männer, könnte das ganz anders aussehen. Also man sollte immer beim Kind bleiben und gucken, was möchte das Kind. Denn nur wenn die Bedürfnisse der Kinder im Fokus stehen, kann man ausblenden, ob ein Mann oder eine Frau mit dem Kind interagiert. Wenn das dem Team und den Eltern klar ist, können sich Männer und Frauen in der Arbeit mit Kindern gleichermaßen sicher fühlen.