„Berufsbegleitende Teilzeit ist eine Zukunftschance und schafft fachfremden Berufswechsler/innen neue Perspektiven.“
Ümmü Gülsüm Bayır ist ausgebildete Erzieherin und Lehrerin für sozialpädagogische Bildungsgänge. Derzeit ist sie Referentin für die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern im Niedersächsischen Kultusministerium.
(Anmerkung der Interviewpartnerin: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht.)
Niedersachsen gehört neben Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen zu einem der wenigen Bundesländer, welches für die Aufnahme der Erzieher/innenausbildung den Abschluss der Sozialassistenzausbildung vorsieht. In anderen Bundesländern ist der Zugang für fachfremde Berufswechsler/innen entweder direkt oder mit einschlägigen Praxiserfahrungen in unterschiedlicher Länge möglich.
Frau Bayır, wieso hat sich Niedersachsen entschieden, ausschließlich Personen mit einem einschlägigen Berufsabschluss zur Erzieher/innenausbildung zuzulassen?
Ihre Frage könnte mit einem Satz beantwortet werden: Niedersachsen setzt die gemeinsam gefassten KMK-Beschlüsse um. Der Satz drückt aber nicht die Brisanz der oben mitschwingenden Forderung aus.
Um diese Frage in seiner Gesamtheit zu beantworten, erfordert es, die wesentlichen Merkmale der Erzieherausbildung in Niedersachsen kurz in den Blick zu nehmen. Das niedersächsische Modell der vierjährigen Ausbildung an der berufsqualifizierenden Berufsfachschule und Fachschule (2+2 Modell) erfüllt durch die Integration der praktischen Ausbildung die Anforderungen der KMK–Rahmenvereinbarung der Länder in der kürzest möglichen Gesamtausbildungszeit.
In der Berufsfachschule Sozialpädagogischer Assistent werden Schüler, die mindestens den Realschulabschluss nachweisen, zunächst als pädagogische Assistenzkräfte qualifiziert. Der Berufszugang als Regelkraft für die Arbeit mit Kindern im Alter von 0 bis 10 Jahren ist somit bereits nach zwei Jahren möglich.
Darauf aufbauend werden Sozialpädagogische Assistenten in der zweijährigen Fachschule Sozialpädagogik zu Erziehern weiterqualifiziert. Der Abschluss eröffnet den Zugang zu allen Arbeitsbereichen der Kinder- und Jugendhilfe.
Hohes Niveau
Die geforderte Vorqualifizierung zur Fachschule in Form der einschlägigen Berufsfachschule zur Sozialpädagogischen Assistenz bzw. einer Berufsausbildung gewährleistet in diesem Zusammenhang ein hohes Maß an Ausbildungsqualität. Damit wird nicht nur der Status einer echten Fachschule, sondern auch die Niveaustufe 6 des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) erreicht. Der Erzieherabschluss steht somit auf der gleichen Stufe wie ein Bachelor-Abschluss. Natürlich sind die hochschulischen BA-Abschlüsse und die fachschulischen Abschlüsse nicht gleichartig, aber im Sinne dieser Einordnung gleichwertig.
Generalisierte Ausbildung
Das berufsspezifische Anforderungsniveau setzt eine generalisierte Ausbildung voraus, die für den Einsatz in den sozialpädagogischen Arbeitsfeldern Kindertageseinrichtung, Kinder- und Jugendarbeit, Hilfen zur Erziehung und für sozialpädagogische Tätigkeiten in der Schule qualifiziert. Diese Anforderungen werden durch das Spiralcurriculum von der Erstausbildung durch die Berufsfachschule zum Sozialpädagogischen Assistenten bis zur Weiterbildung durch die Fachschule Sozialpädagogik in und auf allen Ebenen des zukünftigen Arbeitsfeldes ausgebildet.
Anhebung des Ausbildungsniveaus
Die Niedersächsische Landesregierung hat sich 2005 mit der Umsetzung der Landtagsentschließung „Qualifikation der Erzieherinnen erhöhen – für mehr Bildungsqualität der Kindertagesstätten“ auf eine qualitative Anhebung des Ausbildungsniveaus aller Fachkräfte verständigt. In Niedersachsen führen heute deshalb nur der Erwerb des beruflichen Abschlusses Sozialpädagogischer Assistent in Verbindung mit dem erweiterten Sekundarabschluss I und qualifizierten berufsspezifischen Leistungen zum weiterführenden Fachschulbesuch.
Verkürzung möglich
Auch die Potenziale der in der Regel lebensälteren und lebenserfahrenen Quereinsteiger für das Arbeits- und Berufsfeld werden erkannt und in die reguläre Ausbildungsstruktur integriert. In Niedersachsen sind die qualitativ vertretbaren Verkürzungsmöglichkeiten durch beispielsweise eine Hochschulreife oder eine berufliche Vorbildung im Ausbildungsmodell berücksichtigt und führen zu einer einjährigen Anrechnung. So können auch fachfremde Berufswechsler nach einem Jahr den beruflichen Abschluss zum Sozialpädagogischen Assistenten erreichen.
Steigende gesellschaftliche und pädagogische Anforderungen an Erzieher/innen
Die Kritik, dass in Niedersachsen die Zugangsbedingungen „streng“ seien, ist zu kurz gedacht. Die Zugangsbedingungen zeigen eine konsequente Haltung zur qualitativen und nachhaltigen Aufwertung des personenbezogenen sozialen Dienstleistungsbereichs; auch im europäischen Vergleich. Das Berufsfeld wurde in der Vergangenheit und wird in der Zukunft mit vielen Entwicklungen und der Komplexität der Gesellschaft, zum Beispiel Zuwanderung, Inklusion etc., konfrontiert. In der qualitativ erforderlichen Ausbildungszeit dürfen keine Abstriche gemacht werden. Die theoretischen und praktischen Entwicklungsfenster in der Ausbildung dürfen nicht zu sehr verkürzt werden.
Wie wird sich die berufsbegleitende Teilzeitausbildung in Niedersachsen in Zeiten des Fachkräftebedarfs – im Hinblick auf fachfremde Berufswechsler/innen – weiterentwickeln?
In Anbetracht des steigenden Fachkräftebedarfs gilt es, die Attraktivität der Erzieherausbildung weiter zu steigern und – soweit sinnvoll – ergänzende Modelle zur regulären Ausbildung zu entwickeln.
Ausbildungsvergütung
Dabei rückt immer mehr die Forderung in den Fokus, die Erzieherausbildung als duale Ausbildung anzubieten und eine Ausbildungsvergütung zu zahlen. Kein Bundesland bietet die Erzieherausbildung als duale Erstausbildung an. Die in der Presse als „dual“ beworbenen Ausbildungsmodelle sind in der Regel mindestens dreijährige Fachschulausbildungen in Teilzeit oder dual organisiert, die auf einer mindestens einjährigen einschlägigen Vorbildung aufbauen. Damit dauert die Ausbildungszeit wie in Niedersachsen vier Jahre.
Förderung einer Umschulung zum Sozialpädagogischen Assistenten möglich
Hinsichtlich der Zielrichtung, über eine Ausbildungsvergütung zusätzliche Quereinsteiger zu gewinnen, bietet das niedersächsische Ausbildungsmodell Alternativen:
Die finanzielle Förderung einer Umschulung zum Sozialpädagogischen Assistenten ist über die Arbeitsagenturen möglich.
Der Berufszugang als Regelkraft für die Arbeit mit Kindern im Alter von 0 bis 10 Jahren ist somit für alle Quereinsteiger nach einem Jahr Ausbildungszeit möglich. Träger von Kindertagesstätten können diese Fachkräfte bereits nach einem Jahr durch attraktive Anstellungsverhältnisse binden.
Geeigneten Absolventen steht anschließend der Weg in die Erzieherausbildung offen. Als Sozialpädagogischer Assistent können sie sich berufsbegleitend zum Erzieher qualifizieren, während sie mit der Vergütung einer Regelkraft in Kitas tätig sind.
Berufsbegleitende Teilzeit weiter ausbauen
Die von Quereinsteigern bevorzugte dreijährige berufsbegleitende Teilzeitausbildung zum Erzieher ist in Niedersachsen bereits an 13 Standorten möglich und soll weiter ausgebaut werden. Landesweit zeigt sich der Erfolg einer gezielten Berufsorientierung und der Attraktivitätssteigerung durch die Anrechnung schulischer oder beruflicher Vorbildung darin, dass bis heute genügend qualifizierte Bewerbungen eingehen und dies trotz der Ausweitung der Ausbildungskapazitäten von bis zu 500 Plätzen in jedem Schuljahr. Vor diesem Hintergrund würde sich die Einführung einer verbindlichen Ausbildungsvergütung aktuell weder auf die Steigerung der Ausbildungskapazität noch auf die Deckung des Fachkräftebedarfs auswirken.
Welche Maßnahmen sind notwendig, um die Qualität und Attraktivität der berufsbegleitenden Teilzeitausbildung, insbesondere für die Zielgruppe der fachfremden Berufswechsler/innen, zu sichern?
Berufsbegleitende Teilzeitausbildung ist eine Zukunftschance und schafft für die Zielgruppe neue Perspektiven. Diese Qualifizierungen gewährleisten den Akteuren sowohl ein institutionelles als auch ein gut ausgebautes System in einer engen Theorie-Praxis-Verzahnung, die berufsbegleitend und bezahlt, Kompetenzen für spezielle oder neue Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe vermittelt.
Dieser Zielsetzung folgt das niedersächsische Modell und steigert die Attraktivität für berufserfahrene Berufswechsler, indem
- der Berufszugang als Regelkraft mit dem Abschluss des Sozialpädagogischen Assistenten nach nur einem Jahr erreicht werden kann
- der Abschluss des Sozialpädagogischen Assistenten die Möglichkeit eröffnet, sich anschließend berufsbegleitend zum Erzieher zu qualifizieren, während sie (die Berufswechsler Anm. d. Red.) mit der Vergütung einer Regelkraft in Kitas tätig sind
- eine berufsbegleitende Weiterbildung zum Erzieher, die mit der Vergütung als Zweitkraft in einer Gruppe möglich ist, den Abschluss in drei Jahren Teilzeit ermöglicht
- die Erzieherausbildung so den Zugang zu allen Berufsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe zulässt
eine hohe Qualität der Absolventen gewährleistet wird, die von den Einrichtungen durch attraktive Anstellungsverhältnisse honoriert werden kann.
Verzahnung von Schule und Kita
Die Zuordnung zum Anforderungsniveau 6 des DQR erfordert von allen Akteuren im Feld eine systematische Qualitätssicherung, die in der Praxis beispielsweise durch effektive Nutzung und gemeinsame Gestaltung von Anleiter- und Trägertreffen in Kooperation mit den schulischen Akteuren initiiert wird. So konnten über die Jahre die oben angesprochenen landesweit gut ausgebauten Systeme zur Verzahnung zwischen Theorie und Praxis entwickelt und implementiert werden. Um die vielfältigen Anforderungen der angehenden Fachkräfte qualitativ und pädagogisch nachhaltig für die professionelle Haltung nutzen zu können, sind die in den Kindertageseinrichtungen arbeitenden pädagogischen Fachkräfte in Abstimmung mit dem Ausbildungsort Schule mitverantwortlich. Ziel der zukünftigen Praxiskonzepte wird sein, die in den Rahmenrichtlinien vorgesehene curriculare Verzahnung von Theorie und Praxis bestmöglich zu realisieren und über die Begleitung und Praxisanleitung durch die Fachkräfte im Kita-Bereich die Qualität der praktischen Ausbildung weiterzuentwickeln.
Kooperationsverbund für wohnortnahe Ausbildungen in ländlichen Regionen
Neben der Qualitätsentwicklung ist auch der Ausbau eines wohnortnahen Angebots attraktivitätssteigernd. Einige berufsbildende Schulen in Niedersachsen führen deshalb im Auftrag des Niedersächsischen Kultusministeriums das Innovationsvorhaben „Planung und Durchführung einer gemeinsamen Teilzeitausbildung“ seit dem Schuljahr 2015/16 durch. Um dieses wohnortnahe Teilzeitmodell auch in ländlichen Regionen vermehrt anbieten zu können, schließen sich die berufsbildenden Schulen im ländlichen Raum in einem Kooperationsverbund zusammen. Solche Kooperationen sind landesweit übertragbar und bieten eine wohnortnahe Ausbildungsperspektive.
Quereinstiegsmöglichkeiten in Niedersachsen | Link zur Seite
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