29.05.2019

Arbeit mit Geflüchteten

Ein Großteil der Kindertageseinrichtungen, die Flüchtlingskinder aufgenommen haben, wünschen sich Unterstützungsbedarf. Die Berliner Modellkitas bieten anderen Kitas Konsultationen an, nach dem Prinzip „Praxis berät Praxis“.

Marlies Knoops ist Friedens- und Konfliktforscherin und leitet die Vernetzungsstelle der Berliner Modellkitas für die Integration und Inklusion von Kindern aus Familien mit Fluchterfahrung im Verband Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder der Diakonie Berlin-Brandenburg.

Frau Knoops, Sie sind Leiterin der Berliner Vernetzungsstelle „Berliner Modellkitas für Integration/Inklusion von Kindern mit Fluchterfahrung“. Die Vernetzungsstelle ist im Verband Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder (VETK) eingerichtet.
Wie kam es dazu, dass die Vernetzungsstelle eingerichtet wurde und was sind ihre zentralen Aufgaben?

In den Jahren 2015 und 2016 haben insgesamt mehr als 60.000 Geflüchtete Berlin erreicht und hier Asyl beantragt. Der Berliner Senat entwickelte unterschiedliche Unterstützungsangebote, um die Integration und Inklusion der Geflüchteten zu ermöglichen. Unter den Geflüchteten waren zahlreiche Familien mit kleinen Kindern, hier entstand also ein besonderer Bedarf im Bereich der Kindertagesbetreuung. In Berlin haben zahlreiche Kita-Träger und Kitas bereits Erfahrungen mit der Integration und Inklusion von Kindern aus Familien mit Fluchterfahrung, denn Berlin hat in der Vergangenheit schon vielfach geflüchtete und migrierte Menschen aufgenommen. Vor diesem Hintergrund entstand die Idee, Kitas mit diesem Erfahrungsschatz miteinander zu vernetzen, ihre Expertise weiterzuentwickeln und das gebündelte Wissen niedrigschwellig für die Berliner Kita-Landschaft zugänglich zu machen.

Im Herbst 2016 wurde die entsprechende Vernetzungsstelle vom Land Berlin ausgeschrieben, auf die wir uns mit dem Verband Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder der Diakonie Berlin-Brandenburg sofort beworben haben. Die Erfahrungen aus dem langjährigen Einsatz der Diakonie für Menschen, die von Flucht und Migration betroffen sind, und die Expertise des VETK im Bereich der Kindertagesbetreuung fließen in diesem Projekt zusammen.

Zum Herbst 2016 konnte ich dann die Projektleitung übernehmen und die wirklich spannende Arbeit mit den acht ebenfalls vom Senat ausgewählten Modelleinrichtungen beginnen. Zu den zentralen Aufgaben gehört die fachliche Begleitung der Modellkitas zu der Arbeit mit geflüchteten Familien und zur Konsultationsarbeit. Außerdem arbeiten wir daran, die gesammelten Informationen und Erkenntnisse auch über die Konsultationen hinaus weiterzugeben. Ergebnisse der Projektarbeit sind zum Beispiel eine Handreichung zu diversitätssensibler Kita-Pädagogik, ein berlinweiter Fachtag oder die Projekthomepage.

Alle Kitas und ihre pädagogischen Fachkräfte können sich nun in den Modellkitas zur Konsultation anmelden und bekommen direkte Einblicke in die Arbeitsweisen der Kitas, welche Ansätze sich in der Arbeit mit geflüchteten Familien bewährt haben, mit welchen Diensten und Partnern die Kitas kooperieren, welche Arbeits- und Spielmaterialien hilfreich sind und so weiter. So unterstützen wir auch andere Kitas darin, ebenfalls Kinder aus geflüchteten Familien aufzunehmen, oder kommen mit den bereits Erfahrenen in den Fachaustauch.

Ihre Aufgabe ist es Berliner Modellkitas fachlich zu begleiten. Welche Themen beschäftigen die Modellkitas bei der Integration und Inklusion von Kindern mit Fluchterfahrung?

Das ist ganz breit gefächert, aber alles findet sich eigentlich unter der Frage „Wie ermöglichen wir allen Kindern die Teilhabe an frühkindlicher Bildung und Erziehung?“ wieder. Das ist der Kern, um den es uns geht. Auch Kindern aus Familien mit Fluchterfahrung ihr Recht auf Bildung und Teilhabe, auf’s Kind Sein zu ermöglichen, unabhängig davon, welchen Aufenthaltstitel sie haben, welche Sprachen sie und ihre Familien sprechen oder was sie bisher geprägt hat.

Gerade anfangs, aber auch jetzt noch stoßen die Kitas dabei immer wieder auf Hindernisse, die sie stark beschäftigen. Zum Beispiel, wenn Familien abgeschoben werden und die Kinder vom einen auf den anderen Tag wegbleiben, ohne Vorbereitung, ohne Abschied. Oder sich Protest aus Eltern- oder Nachbarschaft formiert, der die Grenzen von Streitgesprächen und Meinungsverschiedenheiten weit überschreitet. Wie findet man da den richtigen Ton? In so drastischer Form haben sich damit zum Glück nicht alle Kitas auseinandersetzen müssen. Bei anderen machte dann eher die Suche nach Sprachmittlung Schwierigkeiten oder wenn eine Eingewöhnung lange nicht richtig funktionieren will. Da kommt dann manchmal auch Ratlosigkeit oder Unsicherheit auf. Oft hat der kollegiale Austausch im Arbeitskreis und die Fortbildung und Vernetzung hier richtig gut geholfen. Viele Fragezeichen konnten wir so lösen, Expert*innen haben die „Angst vor dem Falschmachen“ bei vielleicht traumatisierten Kindern genommen oder für diversitätssensible Eingewöhnungsmodelle geworben, die andere gelebte Bindungsformen und den verbundenheitsorientierten Ansatz stärker einbeziehen und zum Beispiel die Pädagog*in-Kind-Bindung gar nicht in den Vordergrund stellen, sondern die Bindung der Kinder zu ihrem gesamten sozialen Umfeld. Und irgendjemand kennt auch immer die Telefonnummer einer guten Sprachmittlung oder Rechtsanwältin.

Auch in den Teams knirschte es ab und an, auf einmal kamen sehr persönliche Fragen auf, wurden Zuständigkeiten verschoben oder Vorstellungen von „gut bewährter Praxis“ neu verhandelt. Bei all den Eindrücken selbstbewusst den richtigen Kurs zu halten, unbeirrt das eigentliche Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und dabei die ganze Kita mitzunehmen, ist eine echte Herausforderung. Die Modelleinrichtungen und viele andere Berliner Kitas haben sich dieser Aufgabe gestellt, und das wirklich tolle ist, dass sie ganz oft die Erfahrung machen: Es lohnt sich! Oft schon in kleinen Dingen, wenn zum Beispiel die selbst erstellten Sprach- oder Symbolkarten im Tür-und-Angel-Gespräch zum Einsatz kommen oder das „Guten Morgen“ auf Farsi auf einmal Türen öffnen. Selbst gedrehte Kita-Filme, die allen Familien einen Einblick in den Kita-Alltag geben, die Anschaffung diversitätssensibler Spielmaterialien, ein neu belebtes Familien-Café, in das sich geflüchtete Elternteile einbringen können, weiterentwickelte Instrumente zur alltagsintegrierten Sprachbildung wie die interaktive Bilderbuchbetrachtung, oder die Anstellung von Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung in der Kita: Das sind alles Ansätze, die die Kitas entwickelt haben, um ihren Kita-Alltag inklusiver auch für geflüchtete Familien zu gestalten

Beeindruckt schildern die Kitas auch immer wieder, wie die Kinder untereinander viel schneller Wege finden, Freundschaften schließen und Vielfalt selbst entdecken. In einer Kita konnte es einem Mädchen gar nicht schnell genug gehen, als zwei arabischsprachige Kinder in ihre Gruppe kamen, auch ein bisschen die Sprache ihrer neuen Freunde zu lernen und erfand „Phantasiearabisch“ als Brücke. In einer anderen Kita haben die Eltern, die in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht sind, ihren Sohn auf der ausführlichen Fotodokumentation des Tages das erste Mal seit der Flucht nicht zurückhaltend und in sich selbst versunken, sondern auf der Rutsche richtig lebendig und in Kontakt mit anderen Kindern erlebt. Durch gute Netzwerke gelingt es auch immer öfter, Kinder beim Umzug aus der einen Unterkunft in die andere, die häufig am anderen Ende der Stadt liegt, in eine neue Kita zu begleiten. Manche Familien sind so gut in der Kita angekommen, dass sie 1,5-2h Fahrt auf sich nehmen, um ihr Kind zu bringen. 

Das alles sind dann Erfahrungen und Erkenntnisse, die auch anderen Kitas und Fachkräften, die zur Konsultation kommen, weiterhelfen und gleichzeitig die Kitas bestärken in ihrer Arbeit. Das ist unbeschreiblich wichtig gerade in Zeiten, wo nicht nur Berliner Kitas so sehr mit personellen Rahmenbedingungen zu kämpfen haben und an dieser Stelle oft unter enormen Druck geraten. Solche positiven Erlebnisse stabilisieren auch sehr – Ich bin mir sicher, dass der Zuzug geflüchteter Familien noch einmal ein echter Katalysator ist für eine grundlegende Qualitätsentwicklung, die in der Kernfrage des eigentlichen pädagogischen Auftrags, allen Kindern Zugang zu frühkindlicher Bildung und Erziehung zu ermöglichen, beginnt und – gut begleitet – in einer inklusiven Pädagogik, die sich für genau diese Rechte einsetzt, mündet.

Welche Schritte müssten Kitas gehen, um sich hinsichtlich der Integration von Kindern aus Familien mit Fluchterfahrungen weiter zu entwickeln? Was müsste dazu ggfls. fachpolitisch angeschoben werden?

Ich denke, der wichtigste Schritt, der ja auch in allen anderen Bereichen immer ein Schritt auf dem richtigen Weg ist, ist genau der: Offen zu bleiben für Weiterentwicklung. Das hört sich erst einmal selbstverständlich an, fast nach einem Ist-Zustand, hinter den viele Kitas vielleicht einen Haken setzten würden: „Sind wir.“ Es bedeutet aber eine aktive Bewegung. Kontinuierlich im Team an dem Thema zu arbeiten und immer wieder in Selbst- und Praxisreflexion das eigene Handeln zu hinterfragen, ggf. anzupassen und wieder von vorn zu reflektieren, ist eine echte Aufgabe und braucht eine offene Haltung.

In der Arbeit mit geflüchteten und migrierten Familien hat sich in vielen Kitas nach der ersten Aufregung um das „Neue“ nun vielerorts wieder der Alltag eingestellt – das ist gut so, aber jetzt gilt es, kontinuierlich zu überprüfen, ob die – vielleicht neu gefundene – Routine wirklich barrierefreie für Kinder aller Prägungen und Herkünfte ist.

Ganz zentral ist es daher, Raum für diesen kollegialen Austausch und die Selbst- und Praxisreflexion zu schaffen. Dafür fehlen oft die Zeit und der entsprechende Rahmen, dabei ist das das A und O für eine gute Teamarbeit und Qualität. Denn Haltung kann man nicht in einer Fortbildung nachschulen. Dieser Prozess braucht Zeit, genauso wie ein stabiles Team mit guter Anleitung und Unterstützung, auch von außen. Als aller erstes muss hier also ganz markant am akuten Fachkräftemangel gearbeitet werden. Hier auch schon in die Ausbildung zu investieren, bietet sich an, um Inhalte der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung und Diversitätssensibilität frühestmöglich zu setzen – in unserer vielfältigen Gesellschaft garantiert keine verschenkte Ressource! Und dann sollte Leitungen regelhaft entsprechende Unterstützung von Trägern, Fachberatungen und externen Expert*innen ermöglicht werden.

Die Vernetzung jeder einzelnen Kita spielt eine zentrale Rolle, das zeigt die Erfahrung des Modellkita-Projekts ganz deutlich. Wer gut in seinem Sozialraum und darüber hinaus vernetzt ist und gutes Netzwerkmanagement betreibt, schont seine Ressourcen durch das Unterstützungsnetz und kann Anfragen, die den Kita-Auftrag überschreiten, in professionelle Hände abgeben. Aus meiner Erfahrung lohnt sich hier für jeden Träger, in eine – ich nenne es mal „Netzwerk-Schnittstelle“ in der Kita zu investieren. Diese hat dann die Aufgabe, all solche Anfragen, die außerhalb des pädagogischen Auftrags liegen, an entsprechende Netzwerkpartner zu übermitteln. Das kann ein Familienzentrum sein oder eine eigene Kita-Sozialarbeit. Gerade bei geflüchteten Familien, deren Problemlagen oft sehr komplex und mehrschichtig sind, entstehen solche Anfragen, die die Kapazitäten von Kitas übersteigen. Diese nicht abweisen zu müssen, sondern die entstandene Beziehung für eine wirklich nachhaltige Integration und Inklusion zu nutzen, wäre ein Zugewinn für beide Seiten und stärkt die große Ressource, die Kitas an dieser Stelle schon haben! Hier kann Kindern und ihren Familien über einen vertrauensvollen Kontakt die Chance auf Teilhabe in Vielfalt ermöglicht werden – eine echte Chance für unsere Gesellschaft.

Vielen Dank für das Interview!